Mitreißende Retro-Rock-Welle

 

Ein grandiose Bandzusammenstellung sollte es an diesem Abend werden, neben den Schweden Free Fall sollten vor allem die zwei hochgelobten Retro-Bands Orchid und Witchcraft spielen, nach denen sich jeder Fan des Genres im Moment hektisch die Finger leckt. Doch es kam ein wenig anders – bei Witchcraft traten ernsthafte gesundheitliche Probleme auf, sodass diese kurzfristig ihren Auftritt absagen mussten. Noch kurzfristiger wurde ein Ersatz organisiert, der sich sogar zum Teil aus (ehemaligen) Witchcraft-Mitgliedern zusammensetzt: Troubled Horse. Orchid wurden zum Headliner, und somit konnte dieser Retro-Abend der besonderen Art doch noch vollständig stattfinden.

troubled-horseUm kurz nach acht eröffnen die 2003 im schwedischen Örebro gegründeten Troubled Horse den Abend in einer gut gefüllten Backstage Halle. Das Publikum ist wie immer bei diesen Konzerten metal-bunt gemischt, Hardrocker, Retro-Rocker (vor allem die Jugend beweist oft bewundernswerte Stilsicherheit), Kuttenträger, die üblichen Verdächtigen, die einem auf nahezu jedem Konzert der härteren Gangart über den Weg laufen … eine sehr schöne Kulisse für die Schweden von Troubled Horse jedenfalls, die sofort ohne Umschweife in ihr Set einsteigen und das Publikum ohne Übertreibung von der ersten Minute an erfreuen. Ihr Stil ist eine Mischung aus dem gerade so angesagten Siebziger-Retro-Rock, einigen Südstaaten-Anleihen, ein wenig Country, aber auch einer gehörigen Portion schwedischem Schweinerock nach Art der seligen Gluecifer oder Hellacopters. Die Riffs sitzen, Drums und Bass bilden einen bombenfesten Rhythmusteppich, und Sänger Martin Heppich bietet eine leidenschaftliche Performance, in der er sich gern mal beinahe mit dem Mikrokabel erwürgt oder plötzlich auf der Bühne herumwälzt. Eine ordentliche Prise JoeCocker-Motorik gibt es auch dazu, und am Schluss des Auftritts steht der gute Mann mitten im Publikum, tanzt und singt mit den Leuten in den ersten fünf Reihen, und alle sind glücklich. 
Ach ja, die Musik: Troubled Horse haben bisher erst ein reguläres Album herausgebracht, Step Inside, aus dem etwa zwei Drittel der Lieder präsentiert werden, besonderer Anspieltipp hier „Another Man’s Name“, das mit einem sehr ungewöhnlichen und extrem einprägsamen Refrain aufwarten kann.
Großes Lob auch an Gitarrist Simon Solomon von Witchcraft, der wahren Siebzigergeist verströmte und so unglaublich entspannt seine Riffs zockte, dass man ihm stundenlang hätte zuschauen und zuhören können.
Trotz sicher eher kleinem Bekanntheitsgrad beim Publikum ein für alle Beteiligten erfreulicher Auftritt, der nach 35 Minuten leider schon wieder vorbei ist und bei dem man zu keinem Zeitpunkt das Gefühl hatte, „nur“ einer Vorband zuzusehen.

free-fallIm Vorfeld des Abends war ich ein wenig im Zweifel, wie die Schweden Free Fall mit ihrer Achtziger-Rock-Mischung à la AC/DC, Van Halen und Konsorten dazupassen würden, doch ich wurde eines Besseren belehrt. Ja, es klingt oft nach AC/DC beziehungsweise eher Party-Rock’n’Roll, die Stimme des Sängers steht der von Brian Johnson in kaum etwas nach (sie gefiel mir aber besser), eigentlich alles nichts für mich – und trotzdem war ich begeistert, wie auch die gesamte, mittlerweile richtig volle Halle. Die Band, die auch erst ein reguläres Album (Power And Volume, 2013) auf dem Markt hat, präsentiert sich dermaßen professionell, perfekt in Posing und Stageacting, hat sichtlich Spaß auf der Bühne, und insgesamt gesehen ist ihr Sound doch sehr viel abwechslungsreicher als befürchtet. Vor allem die langsameren Stücke begeistern mich, bei denen durchaus auch mal Led Zeppelin Hallo gesagt haben könnten, die Musiker um Gitarrist Mattias Bärjed (der früher bei den großartigen Soundtrack of our Lives gespielt hat) und Sänger-Sahneschnittchen und Meisterposer Kim Fransson sind exzellent eingespielt und versetzen sich in einen wahren Rausch bei Songs wie „Free Fall“, „Midnight Vulture“, „Damnation“ oder vor allem dem alles niederwalzenden „Word Domination“.
Für mich die Überraschung des Abends, sonst ist „Stadionrock ohne Stadion“ (Zitat eines anwesenden Bekannten) nicht meins, aber ich war wirklich begeistert. Hut ab vor einer Band, die ihre Skeptiker mit Können, Charme und großer Leidenschaft überzeugt.

orchidUm viertel nach zehn etwa ist es dann soweit, die zur Zeit überall hochgelobten Orchid aus Kalifornien betreten die Bühne der (nahezu ausverkauften) Backstage Halle, und sofort macht sich überall gespannte Erwartung breit. Nebel zieht auf, eine düster-psychedelische Atmosphäre entsteht, und die ersten tonnenschweren Riffs ertönen. Sänger Theo Mindell beherrscht vom ersten Moment an das Geschehen mit seiner beeindruckenden Ausstrahlung und seiner Stimmgewalt. Songs wie „Capricorn“, „Eyes Behind The Wall“ „Silent One“, „No One Makes A Sound“, „He Who Walks Alone“ und einige andere mehr reißen das Publikum mit, überall fliegen die Haare, verzückte Gesichter, selbst oben auf der Empore drängen sich noch Leute und jubeln dieser Ausnahmeband zu, der es wirklich hervorragend gelingt, uns musikalisch, äußerlich (die Lederfransenweste des Bassisten ist sicher noch Original Woodstock) und atmosphärisch in die Siebzigerjahre zu entführen. Black Sabbath werden oft als Väter im Geiste genannt – meiner Meinung nach trifft das nur bedingt zu, ja, abgrundtiefe Riffs verwenden auch Orchid, aber insgesamt ist die Dynamik doch eine ganz eigene. Düster, doomig, schwer, rockig, psychedelisch – nach insgesamt einer EP und zwei Alben haben Orchid meiner Meinung nach ihren eigenen Stil gefunden, der sich natürlich innerhalb der Retro-Rock-Genregrenzen bewegt, aber eben vor allem durch die Stimme des Sängers auch unverwechselbar ist. Dessen Gesangsleistung ist übrigens den ganzen Auftritt über tadellos.
Nach der phänomenalen Zugabe „Saviours Of The Blind“ ist dann um etwa halb zwölf Schluss, das Publikum ist selig und stürmt den Merchandise-Stand.

Fazit: Auch wenn ich wirklich sehr, sehr traurig über die Absage von Witchcraft war, war es ein rundum gelungener Abend mit tollen Bands, die vor allem nach dem Konzert noch fröhlich im Publikum herumrannten, sich mit den Fans fotografieren ließen (Orchid und Free Fall) und wirklich Tonnen von auf dem Konzert erworbenem Vinyl (sic!) signieren mussten.

Setlist Orchid:
Eyes Behind The Wall
Capricorn
Mouths Of Madness
Black Funeral
Silent One
Eastern Woman
Son Of Misery
No One Makes A Sound
Wizard Of War
He Who Walks Alone
Saviours Of The Blind

 

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