Wie geht ihr denn erst am Wochenende steil?

The P1100044BossHoss kennt ja jeder, spätestens seit der Teilnahme der beiden Mitglieder Sascha Vollmer und Alec Völkel als Juroren bei der beliebten Casting-TV-Show The Voice of Germany. Vorher jedoch ist Sascha Sänger und Gitarrist der legendären Rock’n’Roll Band Hot Boogie Chillun, Schlagzeuger Roberto Bangrazi und Bassist Micha Frick, der ebenfalls Gründungsmitglied von The BossHoss ist und aktuell unter anderem auch bei der Mittelalter-Band Corvus Corax spielt, sind die anderen Mitglieder des Trios. Sie veröffentlichen von 1995 bis 2005 drei Alben, die sie zusammen mit ihren explosiven Live-Shows aus dem Untergrund an die Spitze der Rockabilly-Szene weltweit katapultiert. Mit den Maßstäben der großen Musikindustrie führt diese natürlich trotzdem noch ein Nischendasein. Als plötzlich der unerwartete große Durchbruch seiner zweiten Band The BossHoss gelingt, muss Sascha notgedrungen Hot Boogie Chillun auf Eis legen, sehr zum Leidwesen aller Rockabilly-Jünger.
Nach der Reunion auf dem Viva Las Vegas Festival letztes Jahr hat man nun endlich im Terminkalender Platz für eine kleine Deutschland-Tour geschaffen und zu diesem Anlass das gefeierte Album 15 Reasons to R’n’R remastered neu aufgelegt und um drei neue Songs erweitert.

Nur zehn Minuten nach Einlassbeginn bin ich am Backstage und die Halle ist erwartungsgemäß noch leer – bis auf die ersten Reihen, die scheinbar vor allem von Die-Hard-Fans von The BossHoss belagert sind, wie ich so mitkriege. Klar, so billig und so nah (ohne Pressegraben) ist deren Frontmann sonst nicht zu haben. Die Show ist zwar für 20 Uhr angekündigt, aber da ist es noch nicht mal halbvoll, also verzögert sich der Beginn um 35 Minuten, damit auch alle Arbeitnehmer in den Genuss der vollen Show kommen können. Schon auf dem Catwalk Richtung Bühne werden Hot Boogie Chillun bejubelt, und dort angekommen, lockert Sascha die Spannung mit: „München, nicht wahr?“ auf und sorgt so für den ersten Lacher. Das Set wird mit „You don’t know“ eröffnet, bei dem sich alle drei Musiker reinhängen. Nach so langer Zeit fühlt sich das richtig gut an. Wie wir nun erfahren, musste Harmonica-Spieler Malcom Arison heute überrraschend nach England reisen, dabei ist die Harmonica ein wichtiges und prägendes Element in vielen Songs. Zum Glück kann ein alter Freund spontan einspringen, derP1100095 mit „Christopher aus Augsburg“ vorgestellt wird. Und so wird direkt mit „Black cat’s bone“ losgelegt, bei dem sich zeigt, dass Christopher keine Notlösung ist, sondern eine klasse Performance hinlegt, die alle begeistert. Wegen der guten Stimmung und den Erinnerungen an früher entfährt es Sascha: „Ich fühl mich wie ein junger Gott!“ Gelächter. „Was gibt’s da zu lachen?“ Noch mehr Gelächter auf allen Seiten. Nach der ersten anfänglichen Euphorie merkt man allerdings, dass etwas anders ist als früher. Saschas Stimme ist hörbar geschult, es fehlt ein bisschen das Dreckige. Zum Teil liegt das sicherlich an fehlenden Zigaretten und Bühnenbier statt Whisky, ist aber wohl vor allem den Anforderungen einer langen The BossHoss Tour geschuldet. Klar, dass dafür die Stimme trainiert worden ist, sonst ist das als Sänger nicht durchzustehen. Das hat aber auch die Folge, dass die Songs glatter klingen als gewohnt und etwas an Atmosphäre verlieren. Weiter geht es mit „Tonight“ bevor Christopher beim grandiosen „Desperado love“ auf der Harmonica wieder den Rhythmus vorgibt. Der Jubel ist groß und viele klatschen mit. Nun erzählt Sascha einen Schwank vom Radiotermin, den man noch am Morgen absolviert hat. Es wurde demnach trotz der frühen Uhrzeit ganz nach bayerischem Klischee nicht nur Bier angeboten, auf dem Flur steht sogar ein Getränkeautomat, der neben Cola und Fanta auch Bier anbietet. „Sowas gibt’s im piefigen Berlin nicht!“ Nach „Wanna hear you scream“ wird mit „At least I’ll try“ der erste neue Song gespielt. Dazu teilt Sascha uns mit, dass es das neue alte Album 18 Reasons to R’n’R am Merchandise zu kaufen gibt. „Dass mir hier keiner ohne Platte oder CD rausgeht. T-Shirts könnt ihr auch kaufen, aber Hauptsache die Platte geht weg!“ Nach einer Tonartabsprache zwischen Christopher und Sascha – es gäbe für jede Tonart eine eigene Harmonica – wird mit „No one will ever know“ auch gleich die erste neue Single gespielt, die nicht weniger gut ankommt, gefolgt von „You’ll never know“.

P1090907Bei „Get hot or go home“ gibt es sogar Zwischenapplaus, denn Micha und Sascha feuern sich quasi gegenseitig an. Aber auch Roberto ist sehr engagiert dabei. Sein Drumstil ist zwar nicht besonders expressiv wenn er spielt, sondern eher cool und smooth, aber trotzdem reißt es ihn nach fast jedem Song von seinem Hocker, um mit den Sticks zu winken. „So, was kommt jetzt?“ Nach einem Blick auf die Setlist meint Sascha: „Der Song handelt von Saturday night!“, gemeint ist damit „Chillun walk“. Für „Have love will travel“ steigt Christopher wieder mit ein, und viele singen mit. Das folgende „Dirty old man“ wird richtig explosiv gespielt, der Schweiß fließt mittlerweile in Strömen. Dadurch, dass quasi alle tanzen, wird die Temperatur in der Halle stetig nach oben getrieben. Als Micha zu einem Basssolo ansetzt, das von Sascha, Christopher und Roberto beklatscht wird, und der dafür extra seinen Platz verlässt, sind sofort unzählige Handys oben, um das Ganze in verwackelten Videos mit schlechtem Sound festzuhalten, die man sich sowieso nie wieder anschaut. Das nervt einfach. Lustig dagegen ist Ghetto-Faust, die die Musiker bei „Send me your love“ austauschen. „Ihr geht ja ab, München, und das an einem Montag Abend! Wie geht ihr denn erst am Wochenende steil? Nächstes Mal kommen wir am Wochenende!“ Na, auf ein Wort! Laßt uns nicht wieder dreizehn Jahre warten. Aber so wird auch klar, dass Sascha zu einem echten Entertainer gereift ist, der es gewohnt ist, auf großen Bühnen vor großen Zuschauermengen zu spielen. So gesprächig kenne ich ihn von früher her nicht. Nach P1090779„What happened to me“ hält Micha die Hitze nicht mehr aus und entledigt sich seines Jacketts, das er am Schlagzeug aufhängt. Sascha kommentiert dies mit: „Ja, jetzt kommt ein Song für die Ladies!“, was für begeisterte „Ausziehen! Ausziehen!“-Rufe auf der Damenseite sorgt, mit denen Micha angefeuert wird, aber auch Sascha animiert werden soll. Doch der bleibt standhaft, und es folgt somit „I love you“. Nun witzelt Sascha: „Der nächste Song ist von 1971, keine Ahnung. Den haben wir schon als Babys geschrieben.“ Gemeint ist damit „Looking back“. Außerdem preist er noch einmal den Merchandise-Stand an und kündigt an, dass man hinterher für Autogramme und Selfies zur Verfügung stehen werde. „Es gibt dort auch Bier und Schnaps!“ In den aufbrandenden Jubel hinein meint er dann: „Wenn ihr das von der Bar mitbringt.“ und hat damit die Lacher noch einmal auf seiner Seite. Beim letzten Song „Oh well“ wird fleißig mitgeklatscht, und im Lichtgewitter schwingt Micha seinen Bass mit großem Schwung in die Drums, um dann doch noch rechtzeitig abzubremsen. Sascha knallt noch mit seiner Gitarre beim Abnehmen derselben versehentlich ans Mikro, dann macht die Band einen halbherzigen Abgang, denn es ist eh klar, dass sie wieder zurückgeklatscht werden. Christopher gibt nun alles an der Harmonica, die Menge flippt aus und brüllt regelrecht „Fuckin‘ sweet“ mit. Es folgt noch „I wanna“, bevor das Konzert nach eineinhalb Stunden mit der ruhigen Coverversion „Widow Wimberly“ von Tony Joe White ausklingt. P1100129„Wir sehen uns an der Bar!“ Es dauert zwar eine Viertelstunde, aber dann taucht die Band erfrischt und umgezogen wie versprochen auf und signiert bereitwillig CDs, Platten und T-Shirts. Dazu nehmen sie sich eine ganze Stunde lang Zeit, damit wirklich jeder drankommt. Das nennt man Fannähe.

Fazit: Es ist schön zu sehen, welchen Spaß die Band während des Auftritts hat. Sie legen eine große Spielfreude an den Tag und freuen sich wie kleine Kinder über die Publikumsreaktionen, und wie sie auf der Bühne bejubelt und abgefeiert werden. In der Tat bringen sie fast die ganze Halle zum Tanzen. Man spürt deutlich, dass die drei ihre gemeinsame Musik sehr vermisst haben, auch Sascha hat seine Rockabilly-Wurzeln nicht vergessen. So ist das Konzert grundsätzlich sehr gut gewesen und hinterlässt bei neuen Fans keine offenen Wünsche. Gerne wieder! Und dennoch, und das bei allem Respekt, im Vergleich zu den früheren Konzerten muss ich einen Punkt abziehen, da ich den damaligen Underground-Flair vermisst habe.

Setlist:
You don’t know
Black cat’s bone
Tonight
Desperado love
Wanna hear you scream
At least I’ll try
No one will ever know
You’ll never know
Get hot or go home
Chillun walk
Have love will travel
Dirty old man
Send me your love
What happened to me
I love you
Looking back
Oh well

Fuckin‘ sweet
I wanna
Widow Wimberly

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