Into the wild
Es ist November, die Tage werden dunkler und trüber. Umso wichtiger sind da Dinge, auf die man sich freuen kann. Ein verlässlich fantastischer Termin ist zum Beispiel das Katzenclub-Festival, das zum ersten Mal im November 2018 stattfand und mittlerweile auch einen Oster-Ableger bekommen hat. Wie immer beim Katzenclub gibt es alte und neue Helden, große Namen und noch unbekanntere Acts, immer liebevoll ausgewählt. Auch diesen November ist das Line-up hochkarätig und hat schon im Vorfeld für Schnappatmung gesorgt. Leider macht die Grippe der Vorfreude einen Strich durch die Rechnung, Black Nail Cabaret müssen kurz vorher schweren Herzens absagen. Mit Yakima Jera wird blitzschnell ein spannender Ersatz aus dem Hut gezaubert, die Running Order noch mal kurz umgestellt, und dann kann es losgehen.
Den Anfang macht in der Kranhalle kein Geringerer als GrGr aus München, der oft live auftritt, und genauso oft hat es für mich bisher nicht geklappt, ihn zu sehen. Umso mehr freue ich mich auf eine ordentliche Portion charmanten Wave-Punk mit Synthie-BlipBlop und Gitarre und vor allem: großartigen Texten. GrGr – auch als Dr. Gregor Giesing unterwegs – macht unter diesem Namen seit 2019 Musik und hat bisher einige Singles, das Gameboy-Tape sowie zwei Alben veröffentlicht. Nach dem melancholischen „Blue“ vom Gameboy Tape begrüßt GrGr das bereits erfreulich zahlreich anwesende Publikum, er freut sich sehr, heute hier zu sein, „ich stand schon oft da, wo ihr jetzt steht“. Dann geht’s aber auch gleich los mit dem leidenschaftlichen Querschnitt durch die beiden Alben, das aktuelle – Kopf – stammt aus dem Jahr 2022, einem Jahr des Umbruchs, die belastende Pandemie ist auf einem leichten Rückzug, dafür marschiert Putin in der Ukraine ein. Das energisch-punkige „Tür & Angel“ oder die gitarrenlastigen „Ausfahrt“, „Vollnarkose“ oder „Sex-App“ bringen das Publikum zum Tanzen, beim nachdenklichen „Zu viel im Kopf“ erkennen sich bestimmt viele wieder, genauso wie bei „The cage“ vom ersten Album So viel Zeit. Zum Abschluss dieses wunderbaren Auftritts gibt es „ein bisschen Bumbum, habt ihr Lust drauf?“ „There was something“ vom ersten Album macht mit viel elektronischem BlipBlop noch mal richtig Laune, und bald darauf sind alle hervorragend aufgewärmt und pilgern rüber in die Hansa 39.
Dort machen sich gerade die Einspringer Yakima Jera bereit, die vermutlich nicht allen Anwesenden etwas sagen. Bei uns waren sie Anfang 2023 schon mal Band der Woche, und Kara und Simon, aus München und Regensburg, haben seither im April 2024 mit Azrael take my hand (Young & Cold Records) ihr zweites Album veröffentlicht. Dark Wave to End Wave, so nennen Yakima Jera selbst ihre Musik, eine Mischung aus Dark Wave, Post Punk, schwarzmetallischer Abgründigkeit, aber auch der Liebe zu 80ies-Pop. Das klingt nach einer nicht leicht greifbaren, sehr mystischen, aber vor allem sehr spannenden Mischung, und genauso kommt es auch. Yakima Jera führen uns bei ihrem Auftritt durch ihre ganz eigene Welt aus anfangs stillen, in sich gekehrten Momenten, aus denen immer wieder Emotionen herausbrechen, die voller Kraft, Verzweiflung, aber auch Freude sind. Kara lebt Songs wie den Opener „Azrael take my hand“, das traurig-tanzbare „Felt love“, das verträumt-elegische „Blasphemic church“ oder das wunderschöne, teils auf Türkisch gesungene „Kara“, unterstreicht sie mit großen Gesten, ausdrucksstarker Mimik und ebensolcher Stimme, nimmt den ganzen Bühnenraum dafür ein und macht Yakima Jeras Klangwelt dadurch dann doch sehr greifbar. Simon an Gitarre und Elektronik schafft hochkonzentriert und in sich ruhend den Gegenpol dazu und geht auf seine Weise genauso in der Musik auf. Visuals auf der Leinwand unterstreichen die verzauberten, aber oft auch sehr flotten, tanzbaren Songs, und das Publikum lässt sich mit offenen Herzen mitreißen. Mit „Dertlı dolap“ gibt es auch noch einen brandneuen Song, bevor Yakima Jera schließlich unter großem Applaus verabschiedet werden.
Weiter geht’s in der Kranhalle mit dem belgischen Duo Skemer, das ich erst im Juni auf dem Grey Scale Festival in der Muffathalle gesehen habe. Dort haben Kim Peers und Mathieu Vandekerckhove schon für mächtig Eindruck gesorgt und werden daher heute gespannt erwartet. Die beiden beginnen ihr Set sehr ruhig und stimmungsvoll-wavig (will heißen: man sieht erst mal fast nichts im roten Düsterlicht) mit „Eyelashes“, „Seen“ und „Heartbreak“ und bauen dann von Song zu Song ein immer intensiveres, härteres und tanzbareres Set auf. Kim lässt erst den langen Mantel und schließlich das Jäckchen beiseite, Mathieu wechselt von der Gitarre an die Elektronik, und die Beats hämmern durch die Kranhalle. Spätestens bei „Out of favor“ tanzt nicht nur Kim elegant über die Bühne, sondern auch das Publikum schwingt begeistert hin und her. Mit „Overgave“ und „Used to you“ vom aktuellen Album Toasts and sentiments endet der Auftritt, bei dem Skemer das hohe Niveau der beiden Vorgängerbands mühelos gehalten und einige neue Fans hinzugewonnen haben.
In der Hansa 39 stehen gleich Isla Ola auf der Bühne, und die werden offensichtlich von ganz vielen sehr sehnlich erwartet, so voll ist es bereits. Im Februar dieses Jahres war das Dortmunder Duo schon einmal Gast beim Katzenclub (mit Die Tödin und Die Selektion) und hat da mit Songs wie „Alles grau“, „Durch den Nebel“ oder „Wo bist du hin?“ für düsterschöne Wave-Stimmung gesorgt. Das gelingt Jesmari und Stefan heute natürlich auch wieder, aber nachdem sich die Leute wirklich dicht an dicht drängen, lichtmäßig „Alles blau“ und „Durch den Nebel“ regiert und keine Chance auf Fotos besteht, entscheide ich mich für eine auch dringend nötige Pause und gehe schon mal rüber in die Kranhalle. Ich lasse mir dann später erzählen, dass Isla Ola einen mitreißenden und magischen Auftritt hingelegt haben, der von allen Seiten der Bühne bejubelt wurde. Hört euch die Dortmunder am besten auf Bandcamp und bei den nächsten Live-Auftritten an, es lohnt sich!
In der Kranhalle bin ich erst mal fast allein und kann die bisherigen vielfältigen Eindrücke ein wenig sortieren und sacken lassen, bald gesellen sich weitere Agent-Side-Grinder-Ultras (sogar aus Schweden) zu mir. Hinter uns macht die Band noch den letzten Soundcheck, fragt uns verwundert und erfreut, was wir schon so früh hier zu suchen haben (tja, überlegt mal), und verschwindet dann wieder. Die drei Schweden gehören zu den Stammgästen des Katzenclubs, sind heute zum vierten Mal dabei und freuen sich nach eigener Aussage auf ihren „favourite club“ im „favourite venue“. Mit dabei haben Emanuel Åström, Peter Fristedt und Johan Lange dieses Mal den (Ambient-)Cellisten Henrik Meierkord, der sie schon das ganze Jahr auf ausgewählten Gigs begleitet und der die liebgewonnen Songs noch mal eindringlicher und ergreifender macht. Zustande gekommen ist die Kollaboration im Rahmen der zwei einzigartigen Gigs der Band im Sjöhistoriska Museet in Stockholm im April dieses Jahres (ich war an einem Abend dabei, und das könnt ihr hier nachlesen), bei denen das Transatlantic Tape Project von Johan und Peter aus dem Jahr 2009 aufgeführt wurde, außerdem eine Auswahl an eher seltener gespielten Songs, die zudem einen Bezug zu ebendiesem Museum und der darin aufbewahrten Schiffsglocke haben. Klingt etwas kryptisch? Lest den Konzertbericht und hört bei einigen Songs ganz genau hin …
Dieses gefeierte Programm haben Agent Side Grinder jedenfalls in etwas abgewandelter Form den Sommer über auf die Festivalbühnen gebracht (WGT, Amphi) und werden damit auch die Kranhalle abfackeln, so viel ist sicher. Alle Geräte inklusive Bandmaschine stehen an ihrem Platz, die Stahlfeder hängt, die Backdrop-Leuchttafeln ebenfalls, und dann geht es auch schon los. Nach dem instrumental-hypnotischen „210-395“ (vom besagten Transatlantic Tape Project) sorgt das intensive „Decipher“ vom aktuellen Album Jack Vegas für die nächste Gänsehaut, die die nächste knappe Stunde auch nicht mehr verschwinden wird – wenn man nicht gerade wild bei räudigen Perlen wie „Waiting room“ oder „Love at first sight“ (das Absolute-Body-Control-Cover) tanzt und schwitzt. An Emanuels Energie auf der Bühne kommen wir aber trotzdem nicht heran, der kaum eine Sekunde stillsteht, wild den Mikroständer wirbelt und sich die Seele aus dem Leib singt, während Peter an Synth und Bandmaschine und Johan an Stahlfeder und Synths hochkonzentriert alles zusammenhalten. Die großen Hits wie „Giants fall“, „Mag 7“ (mit Stahlfeder UND Cello – magisch!) oder „This is us“ dürfen natürlich nicht fehlen, „The archives“ und „For the young“ sorgen für die drölfzigste Gänsehaut, und die Zugabe „Into the wild“ gerät zu einem wilden Ritt, bei dem sich Peter, Johan, Emanuel und Henrik noch mal in Ekstase spielen. Dann bedankt sich Emanuel noch, die Band freut sich immer, in München und beim Katzenclub zu sein, und wir freuen uns auch sehr darüber. Agent Side Grinder in dieser Form und Besetzung? Muss man erlebt haben!
Erschöpft und sehr glücklich pilgert dann alles wieder zurück in die Hansa 39, wo mit She Past Away ein weiterer gern gesehener Katzenclub-Gast wartet. Vor der Bühne warten auch bereits schon einige Reihen beinharter, zumeist sehr junger (Postpunk-)Fans, und das ist wunderschön, denn unsere Szene kann begeisterten Nachwuchs dringend gebrauchen. Der restliche Raum füllt sich dann schnell bis an die Luftgrenze, und She Past Away haben schon bei den ersten Tönen gewonnen. Sehen tut man sie noch nicht im Schummerlicht, das später aber etwas besser wird und ein paar Blicke auf Volkan Caner an Gitarre und Gesang und Doruk Öztürkan an Synths und Drum-Pads erlaubt. Die beiden spielen sich quer durch ihre Diskographie, viele ihrer bekanntesten Songs stammen vom Debütalbum Belirdi geci (wie zum Beispiel „Ritüel“, „Ruh“ oder „Kasvetli kutlama“), aber auch „Asimilasyon“ oder „Disko anksiyete“ sind natürlich dabei. Die Songs erschaffen durch die türkischen Texte – die kaum jemand im Raum verstehen dürfte – und die hypnotischen Rhythmen eine ganz eigene Atmosphäre, in der man sich voll und ganz auf Musik und Klang konzentrieren und wegträumen kann. Überall wird versunken getanzt, die Stimmung in der Hansa 39 ist großartig, und auch die neue Single „Inziva“ wird abgefeiert. Die Band ist „happy to be here“ und bedankt sich im Lauf des Auftritts mehrmals für die euphorischen Reaktionen. Rauschend geht schließlich der Konzertteil des Katzenclub-Festivals zu Ende.
Die Nacht fängt da aber natürlich erst an, denn es gibt noch Party auf drei Tanzflächen, mit den Pagan DJs Michi und Tom sowie den DJs Chrissy aus Salzburg, Greene aus Regensburg, NeonForce, Serenity (von Young & Cold), Chris Zimmermann, Thono und PSYCHOBAT. Für jeden Düstergeschmack ist also etwas dabei, viele Gäste nutzen die Zeit nach den Konzerten aber auch für ausführliches Ratschen und Bekanntschaften pflegen, denn heute sind wirklich alle da und feiern bis in die frühen Morgenstunden.
Vielen Dank an alle Organisatoren, Bands, DJs, Helfer*innen, die Feierwerk-Crew und alle Gäste, die mal wieder ein klein wenig WGT-Feeling nach München gebracht haben. Katzenclub ist immer ein kleines Familientreffen und das Festival mittlerweile eine wunderschöne Konstante im Konzertjahr. Wie viele Menschen das wertschätzen, hat man an den sehr, sehr guten Besucherzahlen gesehen. Ein toller Abend, den Black Nail Cabaret natürlich veredelt hätten, aber sie holen ihren Auftritt bestimmt irgendwann nach, und mit Yakima Jera hat man einen fantastischen Ersatz gefunden. Bis zum nächsten Mal!
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