„Wir pogen innerlich“, oder: Katzenclub goes Wohnzimmer
Es ist Sommer, es ist heiß und gewittrig, die Herren-Fußball-EM ist fast geschafft, vor allem aber ist wieder mal Soundgarden vor dem Feierwerk angesagt. Während der Corona-Zeit vom Katzenclub ins Leben gerufen und eine der wenigen (und seelenrettenden) Gelegenheiten, sich bei guter Musik, Getränken und Lieferservicepizza mit Gleichgesinnten zu treffen. Das Feiern ist ja nun schon seit einiger Zeit wieder ganz normal möglich, der Soundgarden aber eine so schöne Idee, dass man ihn ab und zu trotzdem noch veranstalten kann. Drumherum hat der Katzenclub wie immer ein hochkarätiges Paket geschnürt, das heute mit Rome und Lovataraxx auf den ersten Blick etwas zusammengewürfelt erscheinen mag, aber lassen wir uns überraschen.
Bei der Ankunft vor dem Feierwerk spielt bereits Musik im Soundgarden, heute wird außerdem der Geburtstag von DJ Dennis (Melodrom, Katzenclub) nachgefeiert, und dementsprechend viele Leute sind schon da. Die allermeisten bewegen sich dann um acht auch in die Kranhalle, wo Jérôme Reuter aka Rome gleich auf der Bühne stehen wird. Angekündigt ist eine Solo-Show, das heißt, nur er und seine Akustikgitarre, noch nicht mal Merch hat er dabei (schade). Ein Konzert außerhalb der Reihe, und nachdem Rome letzten Oktober auch erst in München waren (Bericht), im Rahmen der Gates-of-Europe-Tour, sind wir gespannt, was uns heute erwartet. Das weiß Jérôme offenbar auch noch nicht, denn im Lauf des Konzerts improvisiert er immer mal wieder und lässt sich von der Stimmung im Raum leiten. Dabei mischt er bekannte Songs wie den Ohrwurm „Celine in Jerusalem“ oder „Ächtung, Baby!“ (ursprünglich mit Primordial-Alan im Duett gesungen) mit älteren/vielleicht auch unbekannteren Songs wie „Slash’n’burn“ (vom Album The Dublin Session), „The twain“, „Tyriat sig tyrias“ (beide von The Lone Furrow), „Neue Erinnerung“ (von Masse Mensch Material) oder „The Spanish drummer“ (von Die Aesthetik der Herrschaftsfreiheit) oder auch ganz neuen Titeln wie „Todo es nada“ (extra für das Geburtstagskind Dennis) vom Mini-Album World in flames, das am 2. August erscheint. Während der gut zwanzig Stücke herrscht eine fast schon andächtige Atmosphäre in der Kranhalle, alles lauscht verzückt und lässt sich von Jérômes warmer, tiefer, oft auch nachdrücklich rauer Stimme und den klaren Akustikgitarrenklängen verzaubern. Man könnte ungelogen eine Stecknadel fallen hören, und so werden wir auch irgendwann von Jérôme etwas verwundert gelobt: „Ihr seid so diszipliniert!“ Aber das gehört sich doch auch so, bei dieser eindringlichen Musik, den komplexen Texten, den wunderschönen Melodien.
Ganz besonders natürlich auch bei den Songs, die die Lage in der Ukraine thematisieren, die nach wie vor unter dem brutalen russischen Angriffskrieg leidet. Als Jérôme zum Beispiel mit „torn apart“ die letzten Worte von „Ballad of Mariupol“ ins Mikro haucht, habe bestimmt nicht nur ich Gänsehaut. Auch „Death of a lifetime“ oder „Yellow and blue“ von Gates of Europe erinnern eindringlich an den Krieg. Doch dazwischen lockert Jérôme immer mal wieder die Stimmung auf und sorgt mit dem Running Gag „Dennis, alles gut?“ für Lacher. Natürlich ist alles gut, und und als er zum wiederholten Mal nach der Uhrzeit gefragt hat und Anstalten macht, den Auftritt zu beenden, schlägt ihm lautstarker Protest entgegen. Wir einigen uns dann alle darauf, dass er so tut, als würde er die Bühne verlassen, wieder zurückkommen und alle ganz überrascht und erfreut von der Zugabe sein würden. So wird es dann auch gemacht, und nach kurzem Überlegen gibt es „One lion’s roar“ und „Uropia o morte“ zu hören, nach denen leider endgültig Schluss ist. Knapp anderthalb Stunden im Wohnzimmer Kranhalle sind wie im Flug vergangen, vielen Dank dafür, Jérôme. Bei aller Andächtigkeit haben wir „innerlich gepogt“, wie ein Zwischenrufer für Gelächter vor und auf der Bühne gesorgt hat. Aber wir vergessen trotzdem nicht: Slava Ukraini.
Vorbei ist der Abend danach noch lange nicht, denn die Cold Transmission Label Night mit Live-Act Lovataraxx wartet ja noch auf uns. Lovataraxx – das sind Hélène und Julien aus Frankreich, live unterstützt von VJ Tanguy. Sie spielen eine mitreißende Mischung aus Cold Wave, Minimal Synth und elektropunkigen Elementen, mit verzerrt-verhalltem Gesang und nicht wenigen Anleihen an alte Helden wie Suicide. Eine EP und zwei Alben haben Lovataraxx bisher herausgebracht, das aktuelle, Sophomore, ist Anfang April erschienen. Das Publikum tauscht sich ein wenig aus, die Kranhalle ist etwas weniger gefüllt als zuvor, doch das macht gar nichts, denn der Aufbau auf der Bühne – verschiedenste Geräte sowie zwei alte Röhrenfernseher – verspricht trotzdem viel Spaß. Nach dem Intro, das Tanguy und Julien noch allein bestreiten, kommt Hélène mit strahlendem Lächeln auf die Bühne, und vom ersten Moment an ist klar, das wird ein genauso familiäres Konzert wie bei Rome, nur völlig anders. Hélène beherrscht die Bühne mit großen Gesten, viel ausdrucksstarker Mimik und wildem Tanz, grinst immer wieder bis über beide Ohren und springt nach „Zerrissen“ auch, schwupps, ins Publikum, um dort zu tanzen, während Tanguy und Julien auf der Bühne für harte Beats sorgen. Vor „Träumen“ begrüßt sie uns noch auf fast perfektem Deutsch und versichert überschwänglich, wie sehr sie sich alle freuen, hier zu sein. Die Freude ist ganz unsererseits, die Show ist mittreißend, das Licht und die Videoanimationen auf den beiden Röhrenfernsehern hypnotisch, und die Band hat ebenfalls sichtlich Spaß an dem Auftritt.
Beim punkigen „Ana Venus“ springt Hélène wieder ins Publikum und verteilt Ess-Gummischlangen an die Leute in den ersten Reihen, sie selbst mümmelt auch zufrieden an einer und verpasst dadurch, zurück auf der Bühne, fast ihren Einsatz. Sehr niedlicher Moment! Bei den nachfolgenden Songs wechselt Julien oft an den Bass und ans Mikro, während Hélène für die Synths zuständig ist, das supereingängige „Heidi Montauk“ darf da natürlich nicht fehlen. Auch Tanguy macht immer wieder Ausflüge ins Publikum, tanzt dort mit und hopst irgendwann wieder zurück auf die Bühne. Nach einer knappen Stunde will sich die Band verabschieden, aber nichts da, eine Zugabe muss schon noch sein, bevor um elf dann endgültig Schluss ist. Merci!
Vorbei ist die Nacht allerdings noch lange nicht, in der Kranhalle legen die Pagan DJs mit Gast-DJ Andreas von Cold Transmission auf, im Café sorgen Chris Zimmermann, Jessi La Palma und La Fontaine für qualmende Sohlen.
Vielen Dank an alle in welcher Form auch immer Beteiligten für diesen Wohnzimmer-Katzenclub, der es geschafft hat, zwei völlig unterschiedliche Acts zusammenzubringen, die den ganzen Abend über eine familiäre und warmherzige Atmosphäre geschaffen haben, wie man sie nicht oft erlebt. Viel Spontaneität, Improvisation und ehrliche Freude bei beiden Acts zusammen mit einem Publikum, das sich nur zu bereitwillig auf diesen Austausch eingelassen hat – dieser Abend wird noch lange nachwirken. Und innerlich haben wir alle ein bisschen gepogt.
(2698)