Auf einer trostlosen Überlandstraße in einer gottverlassenen Gegend mitten in der Nacht fährt im Regen ein Auto vorbei

GRÜN-WASSER-CoverGrün Wasser sind Keely Dowd (Vocals & Production) und Essej Pollock (Electronics & Production) aus Chicago. Die beiden Freundinnen gründeten ihr gemeinsames Projekt 2015; 2016 erschien ihr erster Longplayer Nein/9, zwei Jahre später Predator/Prey. Keely Dowd macht kein Geheimnis daraus, dass sie in diesen ersten Jahren der Band mit Alkoholismus und Depressionen zu kämpfen hatte. Sie gewann. In den Lyrics das dritten Albums Not ok with things spielen nicht nur die Folgen von und der Kampf gegen Abhängigkeit und Krankheit eine große Rolle, sondern auch die gesellschaftlichen Strukturen und Mechanismen, die beide hervorbringen oder befördern: Zwänge, Sprachlosigkeit, soziale Hierarchien, destruktive Rollenbilder, toxische Beziehungen. Keine leichte Kost, sollte man meinen, aber wie klingt das in Musik übersetzt? Anders, und: catchy.

Diese Catchiness ist so beeindruckend wie erstaunlich, denn sie entwickelt sich aus einem superminimalistischen musikalischen Ansatz heraus. Die meisten Songs kommen mit grundlegendsten Elementen aus: Eine extrem reduzierte (Synth-)Bass-Line, komplexe, drunterweg aber zwingend treibende Drumpatterns, ein paar Soundeffekte, Sample- oder Synth-Spuren und natürlich Dowds fantastische Stimme, mal klassisch anmutend, mal im Sprechgesang, die häufig mit sich selbst gestackt, gelayert und in cineastische Effekträume gestellt wird. (Einziges Drawback dieser charakteristischen Art, die Vocals als Textur in der Song- und Klanglandschaft einzusetzen: Zumindest für mich sind die Lyrics oft schwer zu verstehen, und dabei ist so klar, dass hier jemand wirklich etwas zu sagen und mitzuteilen hat. Ein Grund mehr für die Anschaffung der LP, denn die kommt offenbar mit den Songtexten auf dem Sleeve.) Dieses vermeintlich Wenige entwickelt einen Sog, der im Pressetext mit „hypnotisch“ völlig korrekt beschrieben wird. Klassische Songstrukturen werden angedeutet, viel wichtiger ist das minimalistische Grundprinzip, das Repetitive, Geloopte, stetig Wiederkehrende gerade soweit zu variieren, zu verwirbeln und zu steigern, dass man unwiderstehlich in den Strom hinein- und mitgezogen wird. Und das beherrschen Grün Wasser wirklich meisterhaft.
Ich möchte deswegen gar keinen Track-by-Track-Guide geben, dieses Album funktioniert am besten am Stück, wie ein Film, wie die Topographie einer Stadt. Die Sound-Ästhetik ist (fast) durchgängig streng elektronisch, mal klassisch-analog, mal mehr FM und digital, hat aber durch das Sampling von Alltagsgeräuschen und Stimmen auch etwas sehr Organisches. Sounddesign und Produktion sind herausragende akustische Szenographie, das ebenbürtige Gegenüber einer extrem evokativen Stimme, die ein im Regen vorbeifahrendes Auto auf einer trostlosen Überlandstraße in einer gottverlassenen Gegend mitten in der Nacht eindrucksvoller aufrufen kann, als ein im Regen vorbeifahrendes Auto auf einer trostlosen Überlandstraße in einer gottverlassenen Gegend mitten in der Nacht es könnte.

Der Punk-Hintergrund der Musikerinnen äußert sich schon darin, wie wenig sie auf musikalische Konventionen geben. Sie selber bezeichnen ihre Musik schlicht als „electronic pop“, und wirklich scheut sich hier nichts davor, Pop zu sein, während es gleichzeitig Experimental ist und so (dachte man) disparate Einflüsse wie Hip Hop, House, EDM und IDM, Industrial und Post Punk zusammenführt. Reminiszenzen oder gar Vergleiche zu nennen, fällt nicht leicht. Punktuell erinnert mich die Vocal Performance ganz entfernt an The Kills oder The Knife (wenn man mal von den jeweils charakteristischen Effekten absieht), der Einsatz grob geschnittener und „mit Sprung“ geloopter (Stimm-)Samples als Rhythmus- und Harmonieelement an The Notwist, die extreme Reduktion und die dichte, ruhig-verstörende Atmosphäre an November Növelet – aber das hier ist etwas völlig anderes als die Genannten und steht für sich. Es hilft nichts: Selber reinhören! Mit „Translator“, „Driving“ und „Stranger‘s Mouth“ sind gleich drei der sieben Songs mit eigenem Video am Start. Mein persönlicher Lieblingstrack ist allerdings ein anderer, nämlich „Worm“: Hier skizziert ausnahmsweise eine Gitarre, die jedem pessimistischen Italo-Western gut zu Gesicht stünde, den Hintergrund für fast schon sakrale Vocals. Ungeheuer atmosphärisch – und dann wird es mit einem pumpenden Bass plötzlich tanzbar und mit zusätzlichen Stimm- und Synthlayern auf verquer poppige Weise melodiös. Eine musikalische Welt für sich, wie das ganze fantastische Album.

Anspieltipps: Worm, Stranger‘s mouth, Water death II

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Grün Wasser: Not ok with things
Holodeck Records, 4. Oktober 2019
Download ab 7,30 € bei Bandcamp
LP (+ Download) ab 20 € + Porto; Kasette (+ Download) ab 8 €+ Porto

Tracklist:
01 Translator
02 Driving
03 Worm
04 Gray/Grey
05 Stranger‘s mouth
06 Tried spitting at the sun
07 Water death II

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