Die Schönheit der Veränderung

Okay, das ist – anders. Ich las ja schon, dass dieses Album eine spürbare Entwicklung in neue Richtungen zeige, aber gleich von einem Extrem ins andere? Denn das läuft hier jetzt schon zehn Sekunden lang und ich höre: Stille. Wohltuende Ruhe. Friedliches Nichts. Irritierter Blick zum Mute-Knopf, nö passt, hm, vielleicht mal die Kabel kontr… – ah, jetzt, weit weg in der Ferne taucht etwas auf. Es schwebt und scheppert sachte näher, aber es dauert eineinhalb Minuten, bis die charakteristischste aller Zerr-Bassdrums einsetzt und unmissverständlich sagt: Wir sind hier immer noch bei Mono no aware. Aber wie!

Leif Künzels Rhythm’n’Noise-Projekt existiert seit 1996, das erste Album erschien vor mittlerweile 20 Jahren. Der japanische Alias ist nicht direkt übersetzbar: Unzulässig verkürzt gesagt (und hoffentlich nicht völlig falsch verstanden) steht dieser Ausdruck für ein Konzept der tiefen Achtung für die besondere Schönheit gerade der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit der Dinge. Von den sieben bisher erschienenen Alben trägt wohl keines den Projektnamen mehr zu Recht als dieses jüngste. Denn nachdem sich der Vorgänger Oto (2017) ganz auf den Wesenskern des eigenen Sounds konzentrierte, ist das große Thema von Mujoo eben die Veränderung, die alles unweigerlich erfährt, und die Herausforderung, damit gut umzugehen. Genau das hört man auch.

Der Einstieg ins Album gibt schon ein wenig die Richtung vor. Die brachiale, live wirklich knochenerschütternde Energie und die schwindelerregende Rhythmus-Architektur, die komplexen Räume aus nichts als Krach, Krach in allen Nuancen, all das ist nach wie vor durchgehend da – also das, was die Musik von Mono no aware schon immer auszeichnet und (wohl nicht nur für mich) gleichzeitig zu einem Prototyp und zu einer Ausnahmeerscheinung des Rhythm’n’Noise macht. Aber es kommt Neues hinzu, der musikalische Ansatz hat sich nach mehreren Seiten hin geöffnet. Manchmal kommen ungewohnt atmosphärische Elemente zum Tragen, am stärksten im beinahe schon melodiösen „In a large room“. „Don’t crash“, ein sehr hypnotischer Track mit dark-technoider Seite, überrascht mit mehreren Wenden und kleinen, ein-, zweimal fast schon (synth-)poppigen Sound-Einsprengseln. Elemente aus Richtung (Dark) Techno lassen sich ohnehin immer wieder ausmachen; massiv technoid mit gut Acid dazu wird es dann beim Cubic-Nomad-Remix von „Impulse response“. Das fabelhaft hingedroschene Original mit kehlkopfsingendem Staubsaugerrohr-Lead versetzt in tiefe White-Noise-Meditation, beim Remix mit viel Stimm-Sample sieht man die Laserlichter flackern. Passt! Passt noch mal, wenn sich im anschließenden „Oh boy“ gleich die nächste Acid-Sequenz durch Rhythmusschichten und schwebendes Reverb frisst.
Viele Tracks sind fast „klassisch“ Mono no aware – aber eben nur fast: Sei es die überraschende Leichtigkeit von „Sato“, die kleinen metallenen Melodien bei „X“, die bei mir undeutliche Bilder traditioneller Zeremonien aufrufen, „Not my party“ mit seiner speziellen Musikalität oder das abschließende „In a loop“, so eindringlich wie kurz: Irgendwas ist immer wieder ein bisschen oder ganz anders, manchmal szenischer und erzählender (was zum Geier passiert in „Is it legal?“), manchmal auch weicher oder leichter als gewohnt, vielleicht auch ein bisschen nahbarer, persönlicher?

All das macht Mujoo sehr fesselnd und (jawohl!) sehr hörfreundlich. Mono no aware habe ich den ersten großohrigen Rhythm’n’Noise-Entdeckungsmoment, den Einstieg in eine ganze Musikrichtung und beste Maschinenfest-Erinnerungen zu verdanken (nebenher auch einen kleinen Hörsturz, aber nein, selber dumm gewesen). Aber jeden einzelnen Track eines ganzen Albums zuhause immer wieder konzentriert durchzuhören, dazu kam es doch eher selten. Das hat sich mit Mujoo geändert. Rhythm’n’Noise wie nur was, ohne nur das zu sein, und neues Lieblingsalbum aus diesem Genre. Mindestens!
(Am Rande: Unter den grundsätzlich fantastisch gemachten Covern aus dem Hause Hands gehören die für Mono no aware zu den allerschönsten, der Erwerb eines physischen Tonträgers empfiehlt sich hier besonders.)

Anspieltipps: Sato, In a large room, Don’t crash

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Mono no aware – Mujoo
Hands Productions, 25.10.2019
Download ab 8,90 € bei Bandcamp, CD ab 14 € über Bandcamp oder 13 € bei Hands

https://mono-no-aware.bandcamp.com/
http://www.handsproductions.com/

Tracklist:
01. Isx 27
02. In endless change
03. Impulse response
04. Sato
05. In a large room
06. Is it legal?
07. It’s over
08. A good decision
09. X
10. Don’t crash
11. It’s over (Hypnoskull remix)
12. Impulse Response (Cubic Nomad remix)
13. Oh boy
14. Pounding
15. Not my party
16. In a loop

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