Klanggewordene Stille

phasenmensch_haunted_coverZehn Jahre Phasenmensch: Seit 2009 erkundet Wolfram Bange mit diesem Projekt den Bereich zwischen Industrial, Rhythm&Noise, Downbeat und Dark Ambient, mal allein, oft in Kollaborationen. Mit den Kollegen von ICD-10 und dem 2017 gemeinsam veröffentlichten Divinity/Unity/Nothingness war er vor Kurzem in München zu Gast (zum Konzertbericht hier entlang), zugleich konnte der Release des Phasenmensch-Jubiläum-Solo-Albums Haunted [The gentle indifference of the world] gefeiert werden. Mit Ine-San und Ein Profil haben auch hier Gastmusiker Sounds und Ideen beigesteuert, allerdings nur bei einem bzw. zwei Tracks.
Zehn Jahre Phasenmensch sind mehr als „nur“ zehn Jahre des Entwickelns und Auslotens eines eigenen musikalischen Stils, der auf dem Jubiläumsalbum entsprechend rund und vollkommen konsequent wirkt, als sei er schon immer so da gewesen. Die Musik ist hier Hauptträger eines intermedialen Ansatzes, dessen inhaltliches Anliegen sehr tief geht, einer intensiven Beschäftigung mit Nihilismus und buddhistischer Philosophie, die in Klänge, Rhythmus und Zeit, Textfragmente, Bilder gefasst wird. Die Tracklist sagt es explizit: Haunted ist, mehr noch als seine Vorgänger, eine Einladung, mit auf eine Wanderung zu gehen, die vor allem nach innen führt.

Das ist in der Produktion spürbar umgesetzt. Es sind weniger endlose (Hall-)Weiten als ein dichter, oft dunkler Ort, den man hier betritt; klanglich manchmal kalt, öfter warm; eher rund, organisch oder mineralisch als harsch und betont artifiziell. Die Dimensionen dieser Innenwelt erschließen sich nach und nach, im einzelnen Track und in ihrer Abfolge. Das Intro „The first flame“ – ein kühler Klangraum mit harten Kanten, in dem es entsetzlich zieht, aber irgendwo auch der Ansatz einer Melodie zu hören ist – ist eigentlich eine Ouvertüre, es setzt den Ausgangspunkt, die Stimmung und einige der musikalischen Themen, die auf dem Album ihre Spuren ziehen.
„Transzendenz“, vier Minuten und sechzehn Sekunden tongewordene Lautlosigkeit und klare Luft, bewegt sich weg von diesem Ort; ein Gefühl wie Erleichterung, ich komme gerne mit. „The day before“, in meinen Ohren vielleicht der „klassischste“ Phasenmensch-Track des Albums, kreist mal näher, mal ferner um ein musikalisches Thema, dann leitet das Zug-Intro von „Mind tensions“ den nächsten Aufbruch in eine neue Richtung ein, die energisch beschritten wird. „The process of becoming“ und „Erase the accumulated past“ versetzen mich auf ein innerliches Maschinenfest, doch bei aller Krach- und Tanzbarkeit: Über dem schweren Beat von „The process of becoming“ liegt unüberhörbar eine fundamentale Stille, durch die der Track zuerst wandert, dann segelt; es ist, als malte hier wer mit reinem Orange und jeder verstünde: Blau.
Während jeder Track in sich geschlossen ist, anders als alle anderen dieses Albums, und für sich stehen kann, tauchen doch gemeinsame Elemente auf. Es gibt eine Einheit zwischen den Gegensätzen und zwischen so unterschiedlichen Tracks wie dem wolkenschnell dahinfliegenden „A state beyond time“, dem lyrischen Dunkel von „Unscheduled wandering“, der unwirtlichen Soundscape von „Discipline and trust“, dem zurückgenommenen metallischen Industrial von „A black sky“ und einem überraschend harmonischen, ja frohen „Prospect of vanishing“.
Das abschließende „Assimilation of the devil in ourselves“ ist konsequent und folgerichtig: kaltes, überwältigendes Unbehagen. Die Erlösung vom Selbst kann im Hier bestenfalls berührt werden, nicht festgehalten oder endgültig erreicht, man findet sich wieder und wird entlassen in die nie endende Auseinandersetzung mit dem Unerträglichen, während irgendwo eine neue Harmonie anzuklingen beginnt – und gleich wieder verstummt. Der letzte Track des Albums spiegelt den ersten: Ist das hier ein zyklisches Album, das in seinem Ende auf seinen Anfang zurückgeht? Nicht ganz, der Ausgang ist dem Eingang nah, aber nicht identisch, der Kreis ist eine Spirale.

So. Das war mein (erster) Gang durch dieses Album – andere werden etwas ganz anderes hören, und ich morgen vielleicht auch. Werfen andere Industrial-Acts einen hinaus auf die zerstörten Böden einer kaputten Welt, ist Haunted eine Konfrontation mit dem Selbst in so einer Welt. Das hat es in sich. Wie die Reise, die es beschreibt, ist auch das Album selber nicht einfach, nicht nebenbei zu erledigen und zu erfahren. Ja, man könnte das auch gut im Hintergrund laufen lassen, die Klänge an sich geben auch das her, und fiese Ohrzerstörfrequenzen oder aufdringliches Geknüppel sind nicht zu befürchten. Aber es ist besser, sich darauf einzulassen und mitzuwandern. Der Gang durchs Dunkle ist erhellend, und bessere musikalische Gesellschaft kann man sich dabei nicht wünschen.

Anspieltipps: Am besten alle der Reihe nach. Ansonsten: „Mind tensions“, „A state beyond time“, „A black sky [with no stars]“

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Phasenmensch: Haunted [The gentle indifference of the world]
Hands, 21. Juni 2019
Download ab 8,90 Euro, CD ab 14,- Euro
https://phasenmensch.bandcamp.com/
http://www.handsproductions.com/

Tracklist:
01. The first flame
02. Transzendenz
03. The day before (album version)
04. Mind tensions
05. The process of becoming
06. Erase the accumulated past
07. A state beyond time
08. Unscheduled wandering [feat. Ein Profil]
09. Discipline and trust
10. A black sky [with no stars]
11. The prospect of vanishing [feat. Ine-San]
12. Assimilation of the devil in ourselves [feat. Ein Profil]

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