Synthesen

Ein bisschen ist es ja ein zweites Jubiläumsalbum, oder man könnte diesen Eindruck haben: Zehn Jahre musikalischer Output von Phasenmensch, Material von fünf Alben, zuletzt das 2019 erschienene Haunted (The gentle indifference of the world) (Review), wurde für dieses Remix-Album von einer Schar Mitmusiker*innen umgeschrieben, umgespielt und gefeiert. Über zwanzig Titel, über zwei Stunden Spielzeit, da muss man gar nicht erst versuchen, einen Track-by-track-Durchgang zu schreiben. Darum zuerst nur kurz die Zahlen: Von den 22 Titeln sind 21 Remixe, 20 davon von Kolleg*innen unterschiedlicher musikalischer Ausrichtung, einer ist ein Eigen-Rework in bewährter Zusammenarbeit mit ICD-10. Dazu kommt als Opener ein neuer Track, der in Zusammenarbeit mit Antoine Saint-Martin entstanden ist. Und ich bin froh, dem Einzeldurchgang schon durch diese schiere Fülle von der Schippe zu springen; er könnte einem Album ohnehin nicht gerecht werden, bei dem die Beziehung der Stücke zueinander und zum jeweiligen Original fast ebenso tragend ist wie die musikalische Qualität der einzelnen Tracks.

Die Musik von Phasenmensch wird meist irgendwo zwischen IDM, Ambient und Noise/Industrial verortet. Die Remixe, teils von Hands-Kolleg*innen (wie z.B. Ah Cama-Sotz und Totakeke) und musikalischer Großfamilie, teils aus anderen musikalischen Richtungen kommend (zum Beispiel von Electronica-Klangkünstler Dag Rosenqvist und Kontrabassist Carsten Hundt), machen das Feld noch weiter auf. Zwischen Noise und (Neo-)Klassik ist bekanntlich jede Menge Platz, und der wird hier auch genutzt. Allen gemeinsam ist aber eine offensichtliche Liebe zum Gefrickel und die Sorgfalt beim Umgang mit dem jeweiligen Original: Niemand hier nimmt einfach ein paar Elemente eines Fremd-Tracks und wirft sie in die eigene musikalische Suppe. So eigenständig die Tracks sind, so deutlich wird jeweils die Idee dahinter, der Dialog mit der Vorlage, die Entwicklung aus ihr heraus zu einer neuen Einheit. Deswegen können hier auch mehrere Remixe desselben Tracks direkt hintereinander stehen, ohne dass man einen Eindruck von Wiederholung bekäme; es hilft eher dabei, den musikalischen Fäden zu folgen. Die fünf Remixe von „Thesis“ allein hätten schon ein rundes Release abgegeben. Über das Album verteilt sind sie so etwas wie sein Refrain, an dem aber auch so gut wie nichts gleich bleibt außer den Worten des Stimmsamples.

Dementsprechend bin ich beim Hören ständig versucht, das Original und die jeweils anderen Remixe im direkten Vergleich gegenzuhören, rauszufinden, ob mein Eindruck von Nähe oder Ferne zur Vorlage, meine Einordnung von Sounds und Strukturen als „übernommen“ oder „neu“ denn stimmt. Zu Review-Zwecken verbiete ich mir das teilweise, sonst werde ich hier nie fertig, selbst wenn ich nur ein paar persönliche Highlights nennen will. Ich bin mir aber auch so ziemlich sicher, dass „Rotoskopie“ diesen extremen Zug und Sog erst im Remix von Dag Rosenqvist entwickelt (der zweite Track und gleich der erste Anspieltipp): Mahlstrom mit schillerndem Gebrizzel drunterweg und irgendwo in der Mitte – Ruhe.
„Rigorismus“ im Remix von basementgrrr ist anfangs (gefühlt) näher am Original, durchläuft aber während seiner acht Minuten Spieldauer schon ganz für sich eine Reihe von Permutationen und eine Wandlung von licht und hell zu einer innigen, dunkel-geschlossenen Atmosphäre. Die Soundlinien laufen fast Staffel, aber auch hier herrscht irgendwo unter aller Veränderung eine große Ruhe. Sogar die Zerr-Drum, auf der das Ganze zu Recht endet, klingt fast weich, wohltuend trocken, wie frischgewaschenes und draußen getrocknetes Leinenbettzeug; alleine hier könnte ich schon stundenlang zuhören (im Ernst!).

Einer meiner absoluten Lieblingstracks dieses Albums: „Thesis (Per Aspera Anifaza Vision)“ springt mit Höllentempo und extremem Einfallsreichtum von The-Knife-igen Klängen zu Synth-Pop zu EBM zu IDM und wieder zurück, und es springt wirklich – alles einmal in die Luft geworfen und durchs Kaleidoskop gedreht. Entschuldigung, aber ich glaube, ich bekomme gute Laune.
„Das Dreieck“ im Elphor-Va-Remix ist kurz, heftig, Rhythm & Noise und ziemlich upbeat dabei: Zerr, Lärm und Jahrmarktsorgel, und damit vom Charakter her gar nicht mal so weit weg vom Original, eher in dieselbe Richtung weitergedacht. Nebenher erinnert mich das aber auch ein kleines bisschen an Sonic Area, auch nie verkehrt. Lieblingstrack! Noch einer. Und dabei lasse ich hier schon etliche aus, wie den Xotox‘schen Bleep-Remix desselben Tracks. Aber ein paar muss ich doch noch erwähnen, nämlich:
das massiv gegen den Strich gebürstete „Niemals aufgeben“ im Retineo-Remix von Ine-Sane, der hartnäckig jedem Beschreibungsversuch spottet (… Bossanova …? nein), dabei aber klingt, als wäre er, genau so fabelhaft schräg wie er ist, schon immer dagewesen;
das metallisch kalte, futuristische Hochgeschwindigkeits-„Thesis“ von Rhaoul (erinnert mich an eine Konzertansage, als es so was noch gab: „It‘s not too fast to dance! If it is, you‘re too slow!“) und die unmittelbar darauf folgende Antithese, derselbe Track von Dirty K geremixt, dunkel, unbehaglich, geshreddert, gemörsert, zerstampft und dann nur noch Rhythmus und Lärm;
und schließlich der Leitmotiv-Rainbow-Remix von „Sommerregen“, der letzte von drei dieses Tracks, der genau so klingt wie der Name des Stücks und das Album zu einem fast friedlichen Abschluss bringt.

Im Übrigen sind es nicht nur die Kolleg*innen, die die Tracks teilweise auf links drehen. Mit leiser Nervosität sah ich auf der Tracklist „Discipline and trust“. Kein anderer Track auf Haunted (und kaum irgendein anderer, von wem auch immer) hat mir seit seinem Erscheinen im letzten Jahr so viel gesagt oder war so hilfreich wie dieser – und davon ein Remix, das ist ein bisschen, wie der Verfilmung eines Lieblingsbuchs ins Auge zu sehen. Aber glücklicherweise war der Autor dabei, das Rework stammt von Phasenmensch und ICD-10, und diese leicht technoide, leicht dubbige, sehr tanzbare Ausgabe ist ein völlig anderer Track als das sperrige Original. Durch Zitate verbunden, ja, ein Rework, aber keine Revision. Puh.

Und wie ist das Album so insgesamt? Fast ein kleiner Kosmos, in sich ganz und rund, aber absolut nicht in sich geschlossen, voller Verbindungen und Querverweise nach innen und außen, mit vielen möglichen Zugängen, Les- und Hörarten. Wenn man schon auf einer arg einsamen und reichlich öden Insel festsitzt, sollte man ja bekanntlich die richtige Platte dabeihaben, die so schnell nicht langweilig wird. Insofern ist das hier ein mehr als passendes Release für die Zeit, in der es erschienen ist: Eine Tonspur zu der derzeit vielleicht besonders nötigen oder schlicht unumgänglichen Introspektion, kann man es aber auch genauso gut gerade andersherum hören, sich aus sich selbst heraus- und in das Album reinvertiefen, in die einzelnen Tracks und in die Beziehungen zwischen ihnen, zwischen Original und Remix und Remix und Remix. Die einen gehen mit, schreiben das Original weiter oder um, andere brechen es, unterlaufen oder invertieren es geradewegs. Man kann nachhören, was diese lange Liste an hervorragenden, ganz unterschiedlich aufgestellten Musiker*innen sonst so macht – man kann (und sollte) sich Perpetual transmutation aber auch einfach von vorn nach hinten durchhören als eigenständiges, sehr gut aufgebautes und extrem abwechslungsreiches Album, das trotzdem nicht auseinanderfällt und bei aller Vielfalt eine durchgehende Komponente hat. Denn interessant ist es schon, dass die Musik von Phasenmensch einen so starken eigenen Charakter besitzt, dass man bei aller Permutation irgendwie immer doch noch die spezielle, noise-meditative, innerlich weite und im größten Tumult in sich ruhende Atmosphäre heraushört.

Ein Jubiläumsalbum, wenn man es so hören will, ein 22-stimmiges Geburtstagsständchen aus dem Maschinenraum. Aber Remixe sind, denke ich, auch einfach ein Bestandteil und eine Fortsetzung des musikalischen und gedanklichen Konzepts hinter dem Projekt: Die Musik von Phasenmensch ist an sich schon, auch für die Hörer*innen (wenn sie das so wollen), in einem hohen Maß Reflexion, Auseinandersetzung mit den inneren Brüchen, mit all den Spiegelscherben im Selbst; ein möglicher roter Faden in die unwegsamste Landschaft, die man im Leben vor sich haben wird. Und was ist ein (guter) Remix: die Reflexion einer Reflexion, aufgefangen, noch mal gebrochen, zurück- und weitergeworfen, um auf wieder andere Ohren und andere innere Prismen zu treffen. Fade away into boundless being indeed.
And even into Reggae. Wer auf dieser Tracklist macht bitte so was? Verraten wir hier nicht, aber es passt. Hört selbst.

Anspieltipps: Rotoskopie (Dag Rosenqvist Remix), Thesis (Kontra Remix by Carsten Hundt), Thesis (Per Aspera Anifaza Vision), Niemals aufgeben (Retineo Remix by Ine-Sane)

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Phasenmensch: Perpetual transmutation (Fade away into boundless being)
Vö. 27. März 2020
Download ab 9,– Euro auf Bandcamp 

https://phasenmensch.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/phasenmensch/

Tracklist:
01 Expansion scapes (feat. Antoine Saint-Martin)
02 Rotoskopie (Dag Rosenqvist Remix)
03 Thesis (Sonae Remix)
04 Rigorismus (basementgrrr Remix)
05 Thesis (Kontra Remix by Carsten Hundt)
06 Rotoskopie (Moves & Specifics Remix)
07 Discipline and trust (Rework) (feat. ICD-10)
8 Thesis (Per Aspera Anifaza Vision)
09 Das Dreieck (Elphor Va Remix)
10 Rigorismus (Tornado Siren Remix by Spherical Disrupted and Darkrad)
11 Aporie (Totakeke Remix)
12 Rotoskopie (ICD-10 Steroid Remix)
13 Transzendenz (James Murray Remix)
14 Niemals aufgeben (Retineo Remix by Ine-Sane)
15 Das Dreieck (Bleep Remix by Xotox)
16 Thesis (RHAOUL Remix)
17 Thesis (Dirty K Remix)
18 Transzendenz (Philipp Münch Remix)
19 Sommerregen (Stasis Device Remix)
20 Transzendenz (Ah Cama-Sotz Remix)
21 Sommerregen (Waldrick Remix)
22 Sommerregen (Leitmotiv Rainbow Remix)

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