De-Industrial

Zwei Wörter, die ich mit Sylvgheist Maëlström (noch) mehr als mit anderen Industrial- und Rhythm&Noise-Acts verbinde, sind „Dystopie“ und „Räumlichkeit“. Die vorherigen zwei Alben Norillag und Pripyat stellten mir postapokalyptische Landschaften in den Kopf, in denen unter einem leeren Himmel, vor einem ausgeräumten Horizont, unendlich weit weg, jeder verrostete Zahn des liegengebliebenen Schaufelbaggers einzeln zu klingen beginnt. Wie wird sich dann erst das neue Album anhören, nach und während all der Desaster dieser letzten paar Jahre? Schnell noch mal über das wie immer wunderbare Cover-Design aus dem Hause Hands gefreut und losgehört.

Der Albumtitel verweist diesmal auf eine der Städte in Nordostfrankreich, die nach dem weitgehenden Rückzug der Stahlindustrie mit Verarmung, toxischen Altlasten und nicht gehaltenen Versprechen konfrontiert sind. Und ja, die ersten drei Tracks, darunter der Titeltrack, klingen so, wie ich es von einem Sylvgheist-Maëlström-Album in diesem Jahr erwartet hätte. Komplex aufgebaut, mit einem eher warmen Grund-Sound, etwas weniger harsch auf den Ohren als andere Noise-Acts und auf der ganz großen Leinwand: Unglaublich gut gemachter Rhythm&Noise, der himmelweite, tiefdunkle Räume aufmacht für den Tanz in den Ruinen. Dann kommt der vierte Track „Gloria_Victis“ („Ruhm den Besiegten“, ein Ausdruck, der laut Netz in zwei Asterix-Bänden ebenso auftaucht wie in anderen, teilweise dubioseren Zusammenhängen), und ich horche richtig auf: Irgendwas scheint mir ab hier anders. Es ist unverkennbar Sylvgheist Maëlström, aber das melodische Element ist stärker – oder? Sind die Sounds heller? Oder ist es der Rhythmus, der noch mehr springt und zieht? Ich bin mir nicht sicher, aber viele der 13 Tracks sind nicht nur relativ eingängig (für das Genre, klar …), sondern haben in meinen Ohren etwas – trau ich mich, es zu schreiben – Optimistisches. In all dem komplexen Krach laufen nicht nur Geräusche, Rhythmen, Tonfolgen und Soundflächen gegen-, mit- und ineinander, sondern auch das ganze Spektrum an Emotionen. „Detroit“ zum Beispiel: Es fängt düster an, man hört quasi die Ratten in den verlassenen Anlagen rascheln, aber dann übernimmt nach und nach ein neuer Beat, der nach vorne geht und weiterträgt. Bei „Florange“ (der Name einer Stadt mit ähnlicher Entwicklung wie Gandrange) habe ich leise (hah!) Front-242-Reminiszenzen: Im Rhythmus bleiben! Wird gemacht. Und selbst „SARS-CoV-2“ ist nicht die musikalische Niedergeschlagenheit, die man bei diesem Titel trostlos statt getrost erwarten könnte. Auf eine extrem schnelle, gut hektische Weise ist er fast ein bisschen upbeat. Da ist eine gute Portion Katharsis und Weitermachen dabei – in meinen Ohren. Es gibt ja kaum ein anderes Genre, das den Zustand der Welt so stark reflektiert und dabei so wenig einfach-eindeutig kommentiert wie Industrial. Selber hören, wer auch nur die geringste Affinität zu gutem Krach hat, und daran herumdenken, wer mag!

Ein Track muss noch extra erwähnt werden, weil er so ungewöhnlich ist, so schlicht und so wunderschön, nämlich „Verena“: Zwei Glöcken-Bleep-Arpeggios, gefilterter Noise und ein paar wenige dunkle Klänge mischen sich behutsam, und die Bassdrum, wenn sie dann einsetzt, schlägt so stark wie ein Herz. Fast habe ich Tränen in den Augen, und dabei höre ich hier ein Industrial-Album, vielen Dank. Gut, dass der folgende und letzte Track noch mal richtig nach vorn geht: „Asphyxie“ entlässt mich mit der ganzen Energie in die Welt, die in den letzten konzertarmen Jahren so arg gefehlt hat. Denn bei aller riesengroßen Liebe zum tanzbaren Lärm, es gibt gar nicht mal so viele Alben aus der Richtung, die ich mir daheim immer wieder und wieder anhören kann. Das hier gehört dazu. Für mich ein Album der Stunde, zum Glück.

Anspieltipps: Gloria_Victis, Detroit, Verena

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Sylvgheist Maëlström: Gandrange
Hands, Vö. 22.04.2022
CD ab 14,- €, Download ab 8,90 € bei Hands oder bei Bandcamp

Tracklist:
01. Suffocation
02. Döstädning
03. Gandrange
04. Gloria_Victis
05. Thunder Adrien
06. Florange
07. Hodeida
08. Detroit
09. Dorian (Feu)
10. SARS-CoV-2
11. Attrition
12. Verena
13. Asphyxie

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