Gesehen und nicht gesehen werden

Gesehen zu werden kann eine zweischneidige Sache sein. Sichtbarkeit ist die Voraussetzung dafür, von anderen als Mensch mit einem eigenen Leben, eigenen Anliegen und Rechten wahrgenommen zu werden. Diese simple Tatsache steht z. B. hinter der Forderung nach einer besseren Repräsentation verschiedener Menschen – sei es in der Politik, in Vorstandsgremien oder bei Musikfestivals. Wenn eine Gesellschaft, ein Staat genau dieses eigene Leben und die eigenen Rechte Menschen mit bestimmten Eigenschaften aber abspricht oder nimmt, wird Sichtbarkeit gefährlich. Und von welcher Sichtweise ist die Rede – das, was Einzelne oder eine Gruppe bei sich selbst sehen, oder das, was andere sehen, sehen wollen, unterstellen? Wie wird ein und dieselbe Eigenschaft oder Lebensweise gesehen, interpretiert? All diese Seiten des Gesehen-Werdens schwingen im Titel der derzeitigen Sonderausstellung des NS-Dokumentationszentrums mit: „To be seen. Queer lives 1900-1950“. Sie zeigt, einem Kernanliegen des Dokumentationszentrums gemäß, nicht nur Unterdrückung und Verfolgung, sondern auch, was vorher war, was durch die Nazizeit alles verlorengegangen ist – und dass diese Verluste bis heute nicht wiedergutgemacht sind oder die entstandenen Lücken je geschlossen werden können. Teils, weil die Toten niemand zurückholen kann; teils wegen des mangelnden Willens der Nachkriegsgesellschaft, die sehr gerne wegsehen wollte und sehr gerne sehr gründlich vergaß.

Der Begriff „queer“, das wird eingangs erklärt, wird hier retrospektiv auf diejenigen angewandt, deren Identitäten, Liebes- oder Lebensweisen heute mit diesem Begriff bezeichnet würden, auch wenn sich das Wort erst später als positiv besetzte Selbstbezeichnung etablierte. Queeres Leben in diesem Sinn gab es bekanntlich schon immer, im sogenannten westlichen Kulturkreis gerade seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert um einiges offener als zuvor.
Ein Höhepunkt waren natürlich die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Denn obwohl männliche Homosexualität strafbar war (weibliche in Österreich ebenfalls; in Deutschland zwar nicht, es wurde aber als „asoziales“ und anormales Verhalten betrachtet, wenn sich Frauen ihrer „natürlichen“ Rolle als Ehefrau und Mutter entzogen) und von der Cis-Norm abweichende Identitäten meist als eine Art von Homosexualität betrachtet wurden und an sich gar nicht sichtbar waren: Zwischen Verboten, Strafen und gesellschaftlicher Ächtung blühte trotz allem eine queere Subkultur, die sich teils trickreich verstecken musste, teils auch recht offen gelebt wurde. Es gab in den Städten zahlreiche Clubs und andere Treffpunkte (allen voran natürlich in Berlin – und dort weit mehr als heute!), es gab Buchhandlungen, Vereine und Magazine von und für lesbische, schwule, queere Menschen, und viele Menschen arbeiteten daran, Homosexualität und trans Identitäten zu entkriminalisieren und von moralischen Urteilen zu befreien.

Dem biologistischen Denken der Zeit gemäß lief dabei viel über die Medizin, und auf diesem Weg wurden einerseits auch wichtige Fortschritte erzielt, wie ein Abschnitt der Ausstellung zu diesem Thema zeigt. Auch damals gab es aber gleichzeitig schon Stimmen, die Einspruch erhoben gegen die damit einhergehende Betrachtung als medizinische Abweichung – die damit auch oft als krankhaft oder defizitär gesehen und kontrolliert wurde – und den viel weitergehenden Anspruch hatten, die Cis-hetero-Norm an sich aufzubrechen.

Die Geschichte ist also wie immer komplex. Das Gleiche gilt für das Verhältnis der Politik der Weimarer Zeit zu Queerness, speziell zur Homosexualität. Auch dazu in der Ausstellung viel zu erfahren. Während der NS-Herrschaft war dieses Verhältnis immer noch nicht völlig eindeutig, aber – es erübrigt sich eigentlich zu sagen – eindeutig zerstörerisch. Queere Subkultur hatte keinen Platz mehr in der gleichgeschalteten Nation. „Abweichendes“ Verhalten wurde noch weit gefährlicher, die Anlaufstellen und Treffpunkte wurden geschlossen, Schwule wurden massiv polizeilich verfolgt und in die KZs verschleppt.
In der Ausstellung werden aber nicht nur die großen gesellschaftlichen und politischen Linien aufgezeigt. Besonders stark und eindrücklich fand ich, wie einzelne Lebenswege vor und während der NS-Zeit nachverfolgt, einzelne Lebensrealitäten in ihrem komplexen Umfeld sichtbar werden. Es gibt nicht nur die eine Geschichte, sondern viele, die sich gegenseitig ergänzen.

Wie die Ausstellung weit vor die Nazizeit zurückblickt, um zu zeigen, was alles verlorengegangen ist, hört sie auch nicht am Ende des zweiten Weltkriegs auf. Der letzte Abschnitt ist dem gewidmet, was anschließend verloren blieb an queerer Sichtbarkeit und Menschenrechten – und was sich andererseits ganz ungebrochen fortsetzen konnte an reaktionären und rechten Strukturen, Denkweisen und Aktivitäten. Ein naheliegendes Beispiel: Genau wie Paragraf 218, durch den bis heute eine Abtreibung grundsätzlich als Straftat behandelt wird, überdauerte auch die juristische Verfolgung schwuler Sexualität das Ende der NS-Herrschaft um Jahrzehnte. Zur Erinnerung: Der entsprechende § 175 StGB wurde in der BRD erst 1994 aufgehoben! Und wenn ganz am Schluss der Ausstellung bunte Plexiglas-Seifenblasen wichtige Daten für die (Menschen)Rechte queerer Menschen bis heute benennen (teilweise nicht ganz korrekt, übrigens, denn z. B. der Sterilisationszwang als Voraussetzung für eine Änderung des amtlichen Geschlechtseintrags ist immer noch nicht wirklich aus den Gesetzbüchern verschwunden – das entsprechende Gesetz, das sogenannte „Transsexuellengesetz“, ist nach wie vor in Kraft, nur der entsprechende Abschnitt wurde wie etliche weitere vom Bundesverfassungsgericht als grundrechtsverletzend festgestellt und wird nicht mehr angewendet), dann überwog bei mir und anderen eher das ungute Gefühl, wie lange das alles gedauert hat und immer noch dauert. Noch etwas zur Erinnerung, die „Ehe für alle“ wurde letzten Sommer fünf Jahre alt. Gerade mal fünf Jahre, are you f***ing kidding me? Überhaupt, die Kontinuitäten, und wie wenig sich an der Rhetorik der Queerfeindlichkeit so geändert hat – es ist niederschmetternd, und es macht wütend.

Darum am Ende vielleicht doch noch einmal zurück zu den Nachdrucken schwuler und lesbischer Magazine der 20er, in denen hier in Ruhe geschmökert werden kann. Oder zu den Arbeiten queerer Künstler*innen und ihrem erfinderischen Umgang mit der Zensur; denn natürlich fand queeres Leben und die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und Lebensweise gerade auch im künstlerischen Milieu statt. Die hier gezeigten und erklärten Kunstwerke sind vielleicht der schönste Teil der Ausstellung, und einer der ermutigendsten.

Es gibt also sehr viel zu sehen und zu lesen in dieser extrem informativen und sehr gut gemachten Ausstellung – mehr als genug für mehrere Besuche. Und da der Eintritt dankenswerterweise kostenlos ist, ist das auch kein Problem.
Absolute Besuchsempfehlung!

To be seen. Queer Lives 1900-1950
Sonderausstellung im NS-Dokumentationszentrum, Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München
Noch bis 21. Mai 2023, Dienstag bis Sonntag von 10.00 bis 19.00 Uhr; an Feiertagen geöffnet, auch wenn es ein Montag ist.
Freier Eintritt

https://www.nsdoku.de/tobeseen

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