Der Herr der Träume

 

Wie oft führt man als Leseratte das übliche Gespräch über Lieblingsbücher und Lieblingsautoren, das ist nichts weiter Besonderes. „Welchen Autor magst du?“ Dann kommen die Standardantworten der modernen Fantasyliteratur: Tolkien. Rowling. Pratchett. „Und Gaiman! Ich liebe Neil Gaiman!“ Hier weicht das Gespräch vom Standard ab, indem mein Gegenüber fragt: „Wer?“ Mir entgleisen dabei vor Erstaunen die Gesichtszüge, und ich möchte mir vor Kummer die Haare raufen.
Obwohl viele seiner zahllosen Werke auf Deutsch (zumeist beim Heyne Verlag) erschienen, eine Handvoll sogar verfilmt worden sind, wird er in Buchhandlungen, Bestsellerlisten und dem gesamtdeutschen Literaturbewusstsein oft schändlich übergangen. Dabei hat sich der gebürtige Brite seinen wohlverdienten Platz ganz oben am Olymp der Fantasyautoren bereits früh erklettert:Im Jahr 1985 treffen sich zwei Männer in einem Restaurant in London. Der eine heißt Terry Pratchett, ist Autor und hat kurz zuvor sein Scheibenwelt-Debüt mit The Colour of Magic gegeben. Der andere ist ein junger Journalist und soll den aufstrebenden Autor interviewen. Sein Name? Neil Gaiman.
Ganz im Stil eines Schmalzromans müsste man diesen Moment wohl als „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ bezeichnen, denn die beiden verstehen sich prächtig. Einige Jahre später entwickelte sich jedenfalls daraus eine
Zusammenarbeit, die den kultigsten Roman über das Ende der Welt
hervorbrachte: Ein gutes Omen (Good Omens).
Vor einigen hundert Jahren hat die Hexe Agnes Nutter das Ende der Welt an einem Samstag vorhergesagt. Jener Samstag rückt nun näher, und die Mächte des Himmels und der Hölle rüsten zum letzten Gefecht um die Vorherrschaft. Nur der Engel Erziraphael und der Dämon Crowley haben sich nach Äonen auf der Erde so an das Leben unter den Sterblichen gewöhnt, dass sie es eigentlich nicht hergeben wollen – da bleibt nur Sabotage. Derweil sammeln sich die Reiter der Apokalypse, Atlantis taucht auf, es regnet Frösche, und irgendwie ist in dem ganzen Durcheinander auch noch der Antichrist abhanden gekommen.


In der Zwischenzeit hatte sich Gaiman bereits einen Namen als Autor von diversen Comics und Graphic Novels gemacht, allen voran der epische Comicroman The Sandman, der in 75 Episoden zwischen 1988 und 1996 erschienen ist. Durch seinen enormen Erfolg bei der anglo-amerikanischen Leserschaft war dieser einer der ersten Comics, der je auf der Bestsellerliste der New York Times einen Platz fand. Episode 19 gewann sogar als erster und einziger Comic den World Fantasy Award für Kurzgeschichten.

Sieben Ewige existieren im Universum – sieben, die immer waren und immer sein werden, die nicht, wie Götter, mit dem Glauben der Menschen entstehen und verschwinden. Destiny (Schicksal), Death (Tod), Destruction (Zerstörung), Desire (Verlangen), Despair (Verzweiflung), Delirium (Fieberwahn) und Dream (Traum). Nachdem Dream, der Herr der Träume, durch ein Ritual gebunden und 70 Jahre lang gefangen gehalten wird, muss er nach seiner Freilassung sein Reich wieder in Ordnung bringen und seinen Platz wieder einnehmen. Doch noch viel wichtiger: Er muss lernen, dass selbst das unendliche Leben eines Ewigen Veränderungen mit sich bringt.


Gaimans erster bahnbrechender Soloerfolg als Romanautor folgte 1996 mit Niemalsland (Neverwhere), basierend auf dem von ihm verfassten Drehbuch zur gleichnamigen BBC-Miniserie. Die Geschichte um „Unter-London“ (London Below) fasziniert noch heute Heerscharen von Fans, namentlich erwähnt sollte jedoch Christoph Marzis Hommage an Neverwhere erwähnt werden: die Uralte-Metropole-Trilogie.
2013 wurde Neverwhere von BBC Radio 4 als Hörspiel mit Starbesetzung inszeniert: Unter anderen liehen Natalie Dormer (Game of Thrones), Benedict Cumberbatch (Sherlock) und Sir Christopher Lee (also wer den nicht kennt …) den Charakteren ihre Stimmen.

Mit Sternwanderer (Stardust), American Gods und Anansi Boys (um nur einige zu nennen) gelangen ihm seither regelmäßig weitere Meisterwerke der modernen Fantasyliteratur. Gaimans Stil besticht durch eine einmalige Mischung aus düsteren Märchen, schwarzem Humor und dem gewissen etwas, das ihn einfach als Neil Gaiman auszeichnet. Seine Bücher lesen sich wie roman-gewordene Filme von Tim Burton, oder als ob Terry Pratchett plötzlich beschließt, dass der Scheibenwelt ein bisschen Horror fehlt. Sie sind die Sorte Buch, die man an einem kalten Herbstabend liest, wenn der Sturm Zweige an die Scheiben schlägt, wenn Schatten merkwürdig real und Kindheitserinnerungen wach werden.

Comics, Bücher für Groß und Klein, Hörbücher, Kurzgeschichten – tatsächlich bräuchte man mehrere Seiten, um das Schaffen von Neil Gaiman seit den 1980ern überhaupt aufzulisten, geschweige denn zu kommentieren. Daher nun ein Sprung ins Hier und Jetzt.
Drehbücher sind bei Weitem kein Neuland für den Autor, doch 2011 schrieb er sich mit „The Doctor’s Wife“ auch in die Herzen der weltweiten Fangemeinde der britischen Kult-Sci-Fi Serie Doctor Who. Viel Witz und das Gaiman-typische, düstere Setting machen diese Episode der 6. Staffel zu einer meiner persönlichen All-Time-Lieblingsfolgen. Zwei Jahre später folgte mit „Nightmare in Silver“ ein weiteres Drehbuch für die Serie.

Sein aktueller großer Geniestreich ist The Ocean at the End of the Lane, im englischsprachigen Raum erschienen 2013. Diese melancholische, düstere Reise in die Kindheit bestimmte wochenlang die Bestsellerlisten und wurde bei den britischen National Book Awards zum Buch des Jahres gekürt. Gerüchte über eine Verfilmung werden lauter.
Aktuell hört man – zur Freude aller Fans – dass BBC Radio 4 wieder an einem Hörspiel arbeitet: diesmal eine Adaption von Good Omens, die im Dezember diesen Jahres ausgestrahlt werden soll.

So kommen wir wieder zurück zum Anfang: Neil Gaiman und Terry Pratchett, und der Kreis dieses Portraits schließt sich. Natürlich reichen diese knapp 1000 Worte nicht annähernd aus, um den sympathischen, stets irgendwie zerzaust und verschlafen aussehenden Briten zu beschreiben, der seit Jahren im englischsprachigen Raum Bestsellerlisten anführt. Doch vielleicht reicht es aus, um etwas mehr Aufmerksamkeit auf einen Autor zu richten, den ich ohne Zögern in einem Atemzug mit Tolkien, Rowling und Pratchett nenne. Weil er auf den Punkt bringen kann, was Geschichten ausmacht:

 

“Things need not have happened to be true. Tales and dreams are the shadow-truths that will endure when mere facts are dust and ashes, and forgot.” – Neil Gaiman, The Sandman, Vol. 3: Dream Country


Links, Quellen und Wissenswertes:
Neil Gaimans Homepage – außerdem kann man unter @neilhimself einem gut gepflegten Twitter-Account folgen.
Foto Neil Gaiman © Thomas Duffé

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