Mit ABBA den Tod vertreiben

Julia nennt sich selbst chronisch erfolglose Lohnschreiberin. Sie ist zwar Journalistin, aber nicht fest angestellt. Ihr Hauptauftraggeber ist ein sexistischer Macho, der Chefredakteur von „Gesundheit heute“. Auch nicht gerade der Spiegel, Stern oder Focus! Aber sie schlägt sich so durch. Immerhin hat sie eine andere Gabe: Sie schafft es immer als eine der Ersten bei Presseveranstaltungen ans Büffet. Julia lernt immer wieder tolle Typen kennen und hat beste Freundinnen. Was braucht man mehr, würde man meinen? Naja, sie weiß schon selbst, dass sie nicht gerade das Beste aus ihren beruflichen Fähigkeiten gemacht hat. Sie kann bzw. will keinen Mann halten, sie neigt dazu, ihre Wohnung zu vermüllen, ernährt sich schlecht, bewegt sich zu wenig und trinkt zu viel.

Und für den Salsa-Kurs, den ihre Freundinnen ihr geschenkt haben, fühlt sie sich auch nicht talentiert genug. Als wäre all das noch nicht genug, bekommt sie eine Eigenbedarfskündigung auf den Tisch, und der Zustand ihrer Mutter, die alleine lebt, verschlechtert sich rapide: Diagnose Alzheimer. Sehr viel für Julia, und dennoch nimmt sie den Job ihres Hauptauftraggebers an. Es gibt womöglich schon seit vielen Jahren sexuelle Übergriffe in einem Forschungsinstitut. Die Me-too-Debatte wieder … noch dazu für „Gesundheit heute“! Dennoch nimmt sie das Ganze sehr ernst. Sukzessive geht sie dem Verdacht nach, lernt Betroffene und Beteiligte kennen, hat große Erfolge, macht aber auch viele menschliche Fehler. Das Aufregendste von allem aber: An diesem Institut hatte damals, vor zwölf Jahren, ihr älterer Bruder Robert gearbeitet, bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwand. Verschollen – wie ihre Mutter es nennt. Julia muss unangenehme Fragen stellen, muss sich solchen Fragen aber auch aussetzen. Hat ihr Bruder etwas mit dem Selbstmord einer chinesischen Doktorandin zu tun? Ist er womöglich gar nicht tot? Was wäre gewesen, wenn er damals nicht verschwunden wäre? Wäre die Familie noch intakt und nicht so auseinandergerissen? Lauter Fragen, die Julia im Rahmen ihrer Lohnschreiberei unter anderem bei einer Familienaufstellung beantwortet bekommen will. Dort lernt sie eine krebskranke, lebensbejahende Frau kennen, die gerne isst, trinkt und hinten auf der Vespa ohne Helm lauthals ABBA-Lieder singt, denn vielleicht kann man so den Tod vertreiben. Irgendwie ist das sogar eine kleine Zäsur für Julia. Das Leben ist auf einmal wie auf der Überholspur. Die Me-too-Recherche, ein Prozess, der verschollene Bruder, der vergraulte Mann, die erkrankte Mama. Alles wird anders – und nicht nur schlimmer.

Ein Buch, fluffig geschrieben wie ein „Frauenbuch“: Freundinnen, mit denen man Wein trinkt beim Lieblingsitaliener, Schlimmes erlebt und aufgefangen wird auf der Gästecouch. Andererseits wird journalistisch ein schweres Thema verarbeitet. Und nicht nur das: Der Verlust von Familienangehörigen, zerrüttete Familienverhältnisse und die Problematik mit kranken Eltern werden aufgegriffen. Ein bisschen viel von allem? Nein. Die Autorin schafft den Spagat, all das in knapp 500 Seiten raum- und zeitgebend zu beschreiben. Man lacht an entsprechenden Stellen, weint dann und wann, sinniert hier und da. Einfach schön.

Amelie Fried, Jahrgang 1958, habe ich noch in liebevoller Erinnerung an Sendungen wie „Live aus dem Alabama“, die sie moderiert hat. Nach ihrer TV-Karriere wurde sie Bestseller-Autorin. Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan … Manche Romane wurden erfolgreiche Fernsehfilme. Sie erhielt für ihre Kinderbücher verschiedene Auszeichnungen und lebt mit ihrer Familie in München. Hier setzt sie sich für die Verlegung von Stolpersteinen (kleine Gedenktafeln, die an das Schicksal von Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus erinnern sollen) auf öffentlichem Grund ein.

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Amelie Fried: Die Spur des Schweigens
Heyne Verlag,  Vö. 31. August 2020
496 Seiten
Gebundenes Buch 22 Euro – eBook 17,99 Euro

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