Die Rückkehr in die Stadt der Schornsteine

 

Marzi_CLondonViele Jahre sind vergangen, seit Emily Laing, das einäugige Waisenmädchen, in die Geschicke und Geheimnisse der Uralten Metropole, der Stadt unter London, verstrickt war. Auch wenn sie manche dieser Geschichten nicht so einfach abschütteln kann, tut sie doch ihr Bestes, ein normales Leben zu führen und ihre besondere Gabe einzusetzen, um Kindern zu helfen. Eines Winterabends in Cambridge holen die dunklen Mysterien der Uralten Metropole sie jedoch wieder ein – denn London existiert nicht mehr, hat nie existiert. Nach den Unruhen der vergangenen Jahre und den vielen Schrecken, die die Stadt durchleiden musste, ist ganz klar, dass mit London etwas nicht stimmt. Aber was, und wie man es rückgängig machen kann, müssen Emily und ihr alter Mentor Wittgenstein herausfinden – und dabei noch das Rätsel des verwirrten Waisenmädchens Picadilly Mayfair lösen. Und so kehrt Emily zurück in die Stadt unter der Stadt, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte …

Zehn Jahre nach Lumen, dem dritten Teil der „Uralte Metropole“-Reihe, nimmt uns Christoph Marzi wieder mit in die Stadt der Schornsteine. Es ist ein merkwürdiges Wiedersehen, wie ein zufälliges Treffen mit einem alten Freund, der sich sehr verändert hat. Seit Lumen ist viel Zeit vergangen, und der vierte Teil von Emily Laings Geschichte kam für mich unerwartet nach einer in sich geschlossenen Trilogie. Trotzdem war die Freude natürlich groß, und ich habe wochenlang auf den Erscheinungstermin hin gefiebert. Aber was, wenn sich alte Freunde so sehr verändert haben, dass sie sich nicht mehr wiedererkennen?

London beginnt mit einem ziemlichen Schlag – kaum freut man sich auf die Rückkehr in die Stadt der Schornsteine, ist selbige plötzlich verschwunden. Die Lage entspannt sich zwar schnell, aber wie immer hält Marzi genug Geheimnisse verborgen, um das nagende Gefühl zu erzeugen, dass man etwas Wichtiges verpasst hat. Dennoch habe ich mich zunächst einmal zurückgelehnt und die Geschichte auf mich wirken lassen. Wir treffen viele alte Bekannte wieder, auch einige, deren Auftauchen nicht nur für den Leser eine große Überraschung sein dürfte, sondern auch Emily unmöglich vorkommt.

Stil und Wortwahl sind deutlich erwachsener, und man spürt, dass Emily nicht mehr das kleine Mädchen ist, das sie einst war, und dass in den letzten zehn Jahren viel geschehen sein muss. Auch bei ihren Freunden und Vertrauten hat sich vieles verändert. Das Setting ist düsterer und bedrohlicher; ein Buch für den Herbst, wenn Stürme toben, als wollte die Welt untergehen. Doch natürlich ist das hier auch immer noch Christoph Marzi, und wir sind immer noch in seiner Stadt der Schornsteine, und seine vielen Anspielungen an britische Kultur, Popkultur und Londoner Mythen sind genauso wunderbar wie sie immer waren. Und wie immer sind auch Enden bei Marzi selten wirkliche Enden, sondern hinterlassen oft einen kleinen Stich ins Herz, aber auch ein kleines Versprechen.

Wie war das Treffen mit dem alten Freund also? Verändert hat er sich, aber das habe ich wohl auch. Obwohl ich manchmal das Gefühl hatte, keinen Zugang zur Geschichte zu finden, konnte ich London dennoch schwer aus der Hand legen. Jede Seite ist fast mit etwas Melancholie behaftet, Erinnerungen an Kindheit, an alte Freunde, an erste Liebe. Vielleicht hätte es mich nicht berührt, wenn es nicht warme Erinnerungen an seine Vorgänger hervorgeholt hätte. Vielleicht würde ich mich mit London allein nicht so anfreunden wie mit Lycidas, Lilith und Lumen. Emily geht es da vermutlich mit ihrer alten Freundin Aurora ganz ähnlich. Alles in allem ist London eben nicht mehr die ursprüngliche „Uralte Metropole“-Trilogie, aber ganz bestimmt eine würdige Fortführung und ein großartiges Buch für einen grauen, einsamen Herbst.

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Christoph Marzi: London
Heyne, Vö.: 12.09. 2016
701 Seiten, Paperback
€ 14,99
ePub: 11,99€

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