Nicht vorschnell urteilen …
Nicholas James ist ein junger Autor, der versucht, seinen zweiten Roman zu Papier zu bringen. Er lebt auf einem Hausboot in Camden, trägt Post aus, um die Haushaltskasse aufzubessern, und fühlt sich in seinem Leben ziemlich wohl. Doch das alles wird auf den Kopf gestellt, als er eines Nachts aufwacht und einen Geist in seinem Hausboot findet. Der tut frech so, als ob Nicholas ihn sich nur eingebildet hätte, doch am nächsten Tag begegnen sie sich wieder. Der Geist stellt sich als Peter Chesterton vor und erklärt Nicholas im Wesentlichen, dass die Welt viel komplizierter ist, als er sie sich immer vorgestellt hatte. Und weil Nicholas‘ eigene Welt gerade nicht optimal läuft, lässt er sich von Chesterton in eine neue führen – die Nebelstadt, wo die Geister der Verstorbenen leben, wo Nicholas neue Inspiration und neue Liebe findet, aber auch Bedrohungen, die er sich in seinen Alpträumen nicht hätte ausmalen können.
Ich möchte nicht viele Worte verlieren über Mitternacht. Ich bin ein großer Fan von Christoph Marzi und hatte mich lange darauf gefreut, doch der Erscheinungstermin war einige Male verschoben worden. Als ich das Buch endlich in den Händen hielt, konnte ich es nicht abwarten, wieder in seine Welt einzutauchen. Bis auf die letzten paar Dutzend Seiten dachte ich: herrlich. Ein typischer Marzi. Einfühlsam, liebevoll, mit wunderbaren Worten und Blick für Details. Mitternacht entführt uns in eine andere Welt voller Geheimnisse, mit liebenswerten Charakteren. Es fühlt sich nach Dickens und Gaiman an, aber mit der fast saloppen Leichtigkeit von Christoph Marzi und seinem einmaligen Sprachgefühl. Er weiß genau, wie viel er erklären muss und was besser ungesagt bleibt. Charaktere können mysteriös und dennoch liebenswürdig sein, alles perfekt ausbalanciert.
Doch dann scheint Mitternacht nahe dem Höhepunkt der Geschichte plötzlich abrupt abzureißen. Wichtige Dinge geschehen, die Handlung wird aufgelöst, Charaktere tun was sie tun müssen, aber alles fühlt sich falsch, gehetzt und unausgewogen an. Vollkommen untypisch.
Ich beendete das Buch und war überrascht, fast ärgerlich über das Ende, das der wunderschönen Geschichte einfach nicht würdig erschien. Bis ich das Nachwort sah – Christoph Marzi hatte einen Schlaganfall. Daher wurde der Erscheinungstermin von Mitternacht verschoben, und letztendlich schrieb er es aus der Reha mit Hilfe seiner Frau zu Ende, doch es muss ihm schwer gefallen sein. Jetzt fühle ich mich ein wenig schuldig, weil ich so vorschnell über das Ende geurteilt hatte, doch hauptsächlich bin ich dankbar, dass Marzi seine Geschichte überhaupt beenden konnte und wollte, und Mitternacht bekommt dadurch eine ganz neue Bedeutung für mich. Ich hoffe, Christoph Marzi erholt sich schnell und vollständig und kann seine wundervollen Geschichten bald wieder genau so erzählen, wie er es möchte.
Christoph Marzi: Mitternacht
Piper Verlag, Juni 2019
320 Seiten
€ 15,00 (Paperback), € 12,99 (eBook)
(2409)