Perfekt sein ist nicht alles

Belleville ist die perfekte Kleinstadt. Perfekte Eltern schicken perfekte Kinder auf eine perfekte Schule. Alles ist sauber, ordentlich, strukturiert. Genauso wie es die zwölfjährige Victoria – Klassenbeste – mag. Ihr bester Freund Lawrence ist zwar etwas unordentlich, doch sie sieht ihn als „Projekt“ an – außerdem ist er der einzige Freund, den sie hat. Dass auf ihrem Zwischenzeugnis plötzlich eine zwei steht, hält sie für einen Weltuntergang, doch kurz darauf verschwindet Lawrence spurlos. Seine Eltern benehmen sich merkwürdig, ebenso die Lehrer, und auch ihre eigene Familie fühlt sich irgendwie nicht richtig an. In Victoria wächst das ungute Gefühl, dass das Verschwinden von Lawrence und weiteren Kindern irgendwie mit dem „Cavendish-Heim für Jungen und Mädchen“ zusammenhängt. Sie beschließt, selbst Nachforschungen anzustellen, und findet heraus, warum es in Belleville keine ungezogenen Kinder gibt.


Claire Legrand zeichnet gleich zu Beginn ausführlich und herrlich übertrieben die Parodie der perfekten amerikanischen Kleinstadt: erfolgreiche Eltern, höfliche und intelligente Kinder. Man kann die gepflegten Vorgärten und die pastellfarbene Einrichtung förmlich sehen, und fühlt sich an Kindergeschichten von Dr. Seuss oder Roald Dahl erinnert. Bald schlägt die Bonbon-Stimmung jedoch in etwas sehr viel Bedrohlicheres um, spätestens bei der Beschreibung von Lawrences Eltern nach seinem Verschwinden musste ich mit einem Schaudern an Neil Gaimans Coraline denken, und diese böse, düstere Grundstimmung wird von Claire Legrand auch gekonnt weiter ausgebaut.
Die Heldin Victoria ist ein fleißiges, strebsames und ambitioniertes Mädchen. Sie gibt Hausaufgaben pünktlich und in Überlänge ab, übernimmt Fleißaufgaben und etwas Schlechteres als eine Eins kommt schlicht nicht in Frage. Kurzum: Victoria ist die Sorte Mädchen, die wir alle in der Schule gehasst haben. Legrand beschreibt sie aber so herrlich überzeichnet und schrullig, dass man sie lieb gewinnt. Insbesondere ihre Sturheit und wilde Entschlossenheit machen sie trotz allem sehr sympathisch. Die Geschichte, in die sie hineinstolpert, hält für den Leser zwar nur wenige Überraschungen bereit, aber schließlich ist Das Haus der verschwundenen Kinder in erster Linie ein Jugendbuch, dessen muss man sich bewusst sein.
Trotzdem fehlt ihm irgendwie etwas Besonderes. Das Abenteuer eines starken Mädchens erinnert ein wenig an Wildwood II, aber weniger episch. Ein wenig Seuss, aber weniger lustig. Ein wenig Gaiman, aber weniger poetisch. Es ist ein fesselndes, kurzweiliges Buch zum abends unter der Bettdecke lesen und als Debüt von Claire Legrand zweifellos sehr gelungen. Es hinterlässt aber das Gefühl, dass die Autorin sich erst selbst finden muss, um ein wirklich besonderes Buch zu schreiben. Sie scheint aber auf einem guten Weg.

Bevor sich Claire Legrand dem Schreiben widmete, war sie Musikerin – was man in Das Haus der verschwundenen Kinder auch deutlich spürt. Musik ist ein zentrales Motiv und unterstreicht die versteckte Moral: Kinder müssen Kinder sein, mit rumrennen, singen, laut sein und allem, was dazu gehört.
Außerdem möchte ich auch die wirklich ansprechende Covergestaltung und die liebevollen schwarzweiß Zeichnungen nicht unerwähnt lassen, die das Buch auf jeden Fall zu einem Hingucker im Regal machen.

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Claire Legrand – Das Haus der verschwundenen Kinder
Heyne Verlag, 2014
316 Seiten
14,99 €

ePub: 11,99€

Claire Legrand

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