Außen ein Engel und innen ein Punk

debbieDieses über 400 Seiten umfangreiche, gebundene Buch mit dem schönen Einband und den dicken, glänzenden Seiten macht von Anfang an Spaß. Es beinhaltet viele teils noch nie veröffentlichte Fotos, teils auf witzige Weise kreativ verändert, und viele Blondie bzw. Debbie Harry Porträts, die sie im Lauf der Jahre von Fans zugeschickt bekam.
Und da sind wir schon an einem Punkt, den ich so auch noch nicht wusste: Debbie Harry ist ein großer Kunst-Fan. Ursprünglich wollte sie „was mit Kunst“ studieren, kreativ war sie ohnehin, was man an ihren oft selbst gestalteten Kleidern bemerken konnte. Sie umgab sich viel mit Künstlern, schon immer, ob Graffiti-Künstler, Performance-Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher. Andy Warhol hat einen Siebdruck von ihr gemacht und wurde ein guter Freund, ebenso H.R. Giger und viele Filmmenschen.
Aber ich will mal versuchen, dieses unheimlich umfassende Buch mit seinen vielen Eckpunkten und Anekdoten ein bisschen vorzustellen. Das ist gar nicht so leicht, denn mal wird chronologisch vorgegangen, dann bleibt es einfach auch an einem Gedankengang dran und spinnt den weiter.“Denis“, „Heart of glass“, „Call me“, „One way or another“, „Atomic“ … wer ist die Frau, die all diese herrlichen Klassiker hervorgebracht hat?

Die erste Zeit
Am 1. Juli 1945 kam das kleine Mädchen mit den herzförmigen Lippen zur Welt. Es wurde Angela genannt und nach ein paar Monaten zur Adoption freigegeben. Es bekam liebe Eltern und lebte in bescheidenen, aber glücklichen Verhältnissen in New Jersey. Es hieß nun Deborah. Viel gab es nicht in ihrer Kindheit, sie trieb sich draußen herum, sie machte sich später mit ihren Freundinnen älter als sie war, sie wollte bald, obwohl sie ihre Eltern und die kleine Schwester liebte, raus aus dem Kaff. Sie ging sogar gerne in die Kirche – aber nur wegen des Singens. Schon früh entwickelte sie einen eigenen Modegeschmack. Die Kleider, die die Mutter aussuchte, waren bald indiskutabel.
Die Veränderung
Mit 14 Jahren fing sie dann an ihre Haare zu färben: platinblond. Ihr großes Idol war Marilyn Monroe, mit ihr fühlte sie sich verbunden. Erst sehr viel später erfuhr sie, dass diese auch ein Pflegekind war. Als sie mit der Schule fertig war, wollte sie am liebsten sofort nach New York gehen und irgendwas mit Kunst machen.
Die große weite Welt
Deborah wollte unbedingt nach New York. Aber es dauerte noch eine Weile, bis sie dort wirklich Fuß fasste. Anfangs war sie Büromädchen für alles, Kellnerin oder auch Playboy-Bunny, aber sie traf schnell auf charismatische Persönlichkeiten aus der Film-, Kunst- und Musikszene, beim Lesen der geballten Namen wird einem schwindelig: Andy Warhol, Jimi Hendrix, Miles Davis, David Bowie, Iggy Pop, The Velvet Underground, Nico, Janis Joplin. Sie hatte wohl schon als junge, unbekannte Frau die Gabe, schnell Freundschaften zu knüpfen und auch ein Leben lang halten zu können. Sie lernte einmal H.R. Giger kennen und war in sein Haus eingeladen. Plötzlich hatte sie Lust auf Heroin. Giger war das total peinlich, dass er nichts im Haus hatte und bot ihr eine schwarze Opiumkugel zu essen an. Sie blieben ein Leben lang gute Freunde! Warhol, Bowie, Joan Jett, Patti Smith, die Ramones, so viele Menschen, die sie liebte, und auch so viele, die sie sterben hat sehen und tief betrauern musste.

Der Anfang vom Ruhm

Sie ging viel aus, war in Clubs unterwegs, lernte Chris Stein kennen, ihr späteres Bandmitglied und ihre langjährige Liebe. Sie spielte in einer Band namens Wind in the Willows und Stilettos, die schon so bekannt waren, dass David Bowie und seine damalige Frau deren Konzerte besuchten. Und gleich danach kam Blondie! 1976 kam „Denis“ in die Charts, und von da an ging Blondie ab wie eine Rakete!

Debbies Rolle war die einer extrem femininen Frontfrau in einer männlichen Rockband mit lauter Machos. Sie war äußerlich ein zierlicher Engel, aber innerlich dunkel, provokant, aggressiv: Sie war ein Punk. Sie wusste, Sex sells, aber zu ihren Konditionen.

Sex and Drugs and Rock and Roll – und dann war alles vorbei

Es waren wilde Jahre, die folgten, unendlich viele Auftritte, Freundschaften, Liebschaften, Sex, aber auch Drogen, Heroinsucht, der Tod vieler Freunde. 1982 war alles vorbei. Chris Stein wurde sehr krank. Er hatte eine seltene Autoimmunerkrankung der Haut, die ihn fast umgebracht hätte. Sie mussten eine Tournee abbrechen, Debbie kümmerte sich aufopfernd um Chris, und einige Monate später löste sich Blondie auf. Sie arbeiteten sieben Jahre fast ohne Pause, verkauften über 40 Millionen Platten – und nun waren sie pleite: Missmanagement, schlecht beraten, nicht vorgesorgt.

Zweites und drittes Standbein

Debbie musste wieder ganz von vorne anfangen. Aber sie ließ sich nicht unterkriegen und streckte ihre Fühler nach allen Seiten aus. Sie nahm alles an, was Geld einbrachte. Sie liebte Wrestling und ist auf Veranstaltungen aufgetreten. Sie nahm Solo-Platten auf, die mehr oder minder erfolgreich waren. Da sie sich ja schon von jeher für Film interessierte und auch immer mal wieder Drehbücher zugesandt bekam, vertiefte sie dieses Standbein. Sie spielte in insgesamt mehr als 60 Filmen mit, in John Waters Hairspray, in Isabel Coixets Mein Leben ohne mich und fast in Blade Runner. Die Rolle hat dann aber Daryl Hannah bekommen.

Pikantes

Sex spielte für Debbie schon immer eine große Rolle. Sie wusste, sie war eine schöne Frau, das gab ihr Sicherheit, sie wollte begehrt sein und sie begehrte. Es gab wenig, das ihr unangenehm war oder sie in Verlegenheit gebracht hätte. Ihr Verhältnis zu Sex war immer frei und unbekümmert. Schon als Kind passierte ihr, dass ein erwachsener Mann seinen Trenchcoat hochhob und vor ihr onanierte. Sie spricht auch gerne – lachend – von dem Moment, als David Bowie auf dem Rücksitz im Auto seinen Penis auspackte und Iggy Pop nicht, obwohl sie sich auch für seinen interessiert hätte! Nicht einmal eine Vergewaltigung in ihrer eigenen Wohnung machte sie kaputt. Sie war im Nachhinein nur froh, dass es noch kein Aids gab, und sie bedauerte sehr viel mehr, dass danach ihre Gitarren weg waren, denn Geld gab es leider anfangs nicht in Hülle und Fülle. Sie beschwerte sich einmal lautstark, dass die Spritzdüsen des Jacuzzis im Garten so ungeschickt angebracht waren, dass auf diese Art und Weise sicherlich keine Frau je würde kommen können. Ihr damaliger Lebensgefährte ließ den Jacuzzi umgestalten und hatte damit so viel Erfolg, dass er sich das patentieren ließ.

Die Liebe

Sie hat schon immer gerne mit Jungs und Männern „rumgemacht“, wie sie schreibt, aber irgendwann kam Chris Stein. Niemals hätte sie sich vorstellen können, so lange – 15 Jahre – mit jemandem zusammen zu sein, aber es funktionierte. Nur irgendwann war es dann einfach vorbei, und sie blieben beste Freunde, wie Liebende, nur ohne Sex. Sie kümmerte sich hingebungsvoll und lange um Chris, als dieser erkrankte, und so sehr er die ganzen Jahre der Fels in ihrer Brandung war, so war sie es nun für ihn. Sie ist immer noch mit ihm und seiner Frau eng verbunden, wie Familie.

Zurück auf Anfang

Dann kam der Moment, als Chris Stein meinte, lass uns Blondie wieder zusammenbringen! Was auf den ersten Blick wie eine Schnapsidee wirkte, war auf den zweiten Blick gar nicht so abstrus. Was dann kam, wissen vielleicht sogar die Jüngeren unter den Lesern. Nach all den Jahren Pause gab es eine neue Blondie-Platte, sie feierten mit „Maria“ ihr Comeback, wurden in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen, und 2008 wurde gar eine Blondie in die Barbie-Kollektion aufgenommen!

Und jetzt?

Debbie Harry denkt jetzt an die Umwelt, das merkt man schon an ihrem Albumtitel Pollinator. Sie wollte mit dem Album und der entsprechenden Tour die Öffentlichkeit auf das Thema „Rettung der Bienen“ aufmerksam machen. Außerdem setzt sie sich für Umweltthemen ein, für Menschenrechte und die LGBTQ-Gemeinde.

Wie ist denn nun diese Debbie Harry?

Debbies Kleider waren oft einzigartig, aus der Not heraus improvisiert, und als sie das Geld für edle Materialien, Gucci und Versace gehabt hätte, ließ sie sich lieber Rasierklingen auf den Leib schneidern. Deborah Harry war noch nie ein schlichtes Blondchen. Sie ist einfach Blondie! Auch jetzt noch mit 74 Jahren.

Dieses Buch ist für Fans ein Muss, und für alle anderen ist es ein schrilles, schonungsloses Stück Zeitgeschichte: diese Downtown-Künstler-Szene New Yorks, die es niemals wieder in dieser Art geben wird, weil die Zeiten einfach anders sind. Es ist für mich der Pageturner des Jahres.

Debbie Harry: Face it
Heyne Verlag, Vö. 14. Oktober 2019
432 Seiten
Gebundene Ausgabe 25 Euro
eBook 17,99 Euro

 

(2007)