Außen ein Engel und innen ein Punk
Und da sind wir schon an einem Punkt, den ich so auch noch nicht wusste: Debbie Harry ist ein großer Kunst-Fan. Ursprünglich wollte sie „was mit Kunst“ studieren, kreativ war sie ohnehin, was man an ihren oft selbst gestalteten Kleidern bemerken konnte. Sie umgab sich viel mit Künstlern, schon immer, ob Graffiti-Künstler, Performance-Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher. Andy Warhol hat einen Siebdruck von ihr gemacht und wurde ein guter Freund, ebenso H.R. Giger und viele Filmmenschen.
Aber ich will mal versuchen, dieses unheimlich umfassende Buch mit seinen vielen Eckpunkten und Anekdoten ein bisschen vorzustellen. Das ist gar nicht so leicht, denn mal wird chronologisch vorgegangen, dann bleibt es einfach auch an einem Gedankengang dran und spinnt den weiter.“Denis“, „Heart of glass“, „Call me“, „One way or another“, „Atomic“ … wer ist die Frau, die all diese herrlichen Klassiker hervorgebracht hat?
Die erste Zeit
Der Anfang vom Ruhm
Sie ging viel aus, war in Clubs unterwegs, lernte Chris Stein kennen, ihr späteres Bandmitglied und ihre langjährige Liebe. Sie spielte in einer Band namens Wind in the Willows und Stilettos, die schon so bekannt waren, dass David Bowie und seine damalige Frau deren Konzerte besuchten. Und gleich danach kam Blondie! 1976 kam „Denis“ in die Charts, und von da an ging Blondie ab wie eine Rakete!
Debbies Rolle war die einer extrem femininen Frontfrau in einer männlichen Rockband mit lauter Machos. Sie war äußerlich ein zierlicher Engel, aber innerlich dunkel, provokant, aggressiv: Sie war ein Punk. Sie wusste, Sex sells, aber zu ihren Konditionen.
Sex and Drugs and Rock and Roll – und dann war alles vorbei
Es waren wilde Jahre, die folgten, unendlich viele Auftritte, Freundschaften, Liebschaften, Sex, aber auch Drogen, Heroinsucht, der Tod vieler Freunde. 1982 war alles vorbei. Chris Stein wurde sehr krank. Er hatte eine seltene Autoimmunerkrankung der Haut, die ihn fast umgebracht hätte. Sie mussten eine Tournee abbrechen, Debbie kümmerte sich aufopfernd um Chris, und einige Monate später löste sich Blondie auf. Sie arbeiteten sieben Jahre fast ohne Pause, verkauften über 40 Millionen Platten – und nun waren sie pleite: Missmanagement, schlecht beraten, nicht vorgesorgt.
Zweites und drittes Standbein
Debbie musste wieder ganz von vorne anfangen. Aber sie ließ sich nicht unterkriegen und streckte ihre Fühler nach allen Seiten aus. Sie nahm alles an, was Geld einbrachte. Sie liebte Wrestling und ist auf Veranstaltungen aufgetreten. Sie nahm Solo-Platten auf, die mehr oder minder erfolgreich waren. Da sie sich ja schon von jeher für Film interessierte und auch immer mal wieder Drehbücher zugesandt bekam, vertiefte sie dieses Standbein. Sie spielte in insgesamt mehr als 60 Filmen mit, in John Waters Hairspray, in Isabel Coixets Mein Leben ohne mich und fast in Blade Runner. Die Rolle hat dann aber Daryl Hannah bekommen.
Pikantes
Sex spielte für Debbie schon immer eine große Rolle. Sie wusste, sie war eine schöne Frau, das gab ihr Sicherheit, sie wollte begehrt sein und sie begehrte. Es gab wenig, das ihr unangenehm war oder sie in Verlegenheit gebracht hätte. Ihr Verhältnis zu Sex war immer frei und unbekümmert. Schon als Kind passierte ihr, dass ein erwachsener Mann seinen Trenchcoat hochhob und vor ihr onanierte. Sie spricht auch gerne – lachend – von dem Moment, als David Bowie auf dem Rücksitz im Auto seinen Penis auspackte und Iggy Pop nicht, obwohl sie sich auch für seinen interessiert hätte! Nicht einmal eine Vergewaltigung in ihrer eigenen Wohnung machte sie kaputt. Sie war im Nachhinein nur froh, dass es noch kein Aids gab, und sie bedauerte sehr viel mehr, dass danach ihre Gitarren weg waren, denn Geld gab es leider anfangs nicht in Hülle und Fülle. Sie beschwerte sich einmal lautstark, dass die Spritzdüsen des Jacuzzis im Garten so ungeschickt angebracht waren, dass auf diese Art und Weise sicherlich keine Frau je würde kommen können. Ihr damaliger Lebensgefährte ließ den Jacuzzi umgestalten und hatte damit so viel Erfolg, dass er sich das patentieren ließ.
Die Liebe
Sie hat schon immer gerne mit Jungs und Männern „rumgemacht“, wie sie schreibt, aber irgendwann kam Chris Stein. Niemals hätte sie sich vorstellen können, so lange – 15 Jahre – mit jemandem zusammen zu sein, aber es funktionierte. Nur irgendwann war es dann einfach vorbei, und sie blieben beste Freunde, wie Liebende, nur ohne Sex. Sie kümmerte sich hingebungsvoll und lange um Chris, als dieser erkrankte, und so sehr er die ganzen Jahre der Fels in ihrer Brandung war, so war sie es nun für ihn. Sie ist immer noch mit ihm und seiner Frau eng verbunden, wie Familie.
Zurück auf Anfang
Dann kam der Moment, als Chris Stein meinte, lass uns Blondie wieder zusammenbringen! Was auf den ersten Blick wie eine Schnapsidee wirkte, war auf den zweiten Blick gar nicht so abstrus. Was dann kam, wissen vielleicht sogar die Jüngeren unter den Lesern. Nach all den Jahren Pause gab es eine neue Blondie-Platte, sie feierten mit „Maria“ ihr Comeback, wurden in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen, und 2008 wurde gar eine Blondie in die Barbie-Kollektion aufgenommen!
Und jetzt?
Debbie Harry denkt jetzt an die Umwelt, das merkt man schon an ihrem Albumtitel Pollinator. Sie wollte mit dem Album und der entsprechenden Tour die Öffentlichkeit auf das Thema „Rettung der Bienen“ aufmerksam machen. Außerdem setzt sie sich für Umweltthemen ein, für Menschenrechte und die LGBTQ-Gemeinde.
Wie ist denn nun diese Debbie Harry?
Debbies Kleider waren oft einzigartig, aus der Not heraus improvisiert, und als sie das Geld für edle Materialien, Gucci und Versace gehabt hätte, ließ sie sich lieber Rasierklingen auf den Leib schneidern. Deborah Harry war noch nie ein schlichtes Blondchen. Sie ist einfach Blondie! Auch jetzt noch mit 74 Jahren.
Dieses Buch ist für Fans ein Muss, und für alle anderen ist es ein schrilles, schonungsloses Stück Zeitgeschichte: diese Downtown-Künstler-Szene New Yorks, die es niemals wieder in dieser Art geben wird, weil die Zeiten einfach anders sind. Es ist für mich der Pageturner des Jahres.
Debbie Harry: Face it
Heyne Verlag, Vö. 14. Oktober 2019
432 Seiten
Gebundene Ausgabe 25 Euro
eBook 17,99 Euro
(2007)