Wenn eine finstere Vergangenheit Norwegen einholt

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In einem Waldstück nahe Oslo tauchen in einer heißen, hellen Sommernacht die skelettierten Leichen einer Familie auf, erschossen vor Jahrzehnten vom norwegischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzung. Nur wenig später wird ein gefeierter Widerstandskämpfer, der entscheidend am Aufbau des norwegischen Staates nach dem Krieg mitgewirkt hat, auf grausamste Weise ermordet. Kommissar Tommy Bergmann glaubt als Einziger, dass es zwischen beiden Ereignissen eine Verbindung gibt und nimmt die Ermittlungen auf. Dabei wird er immer tiefer in ein Netz aus Spionage, Vaterlandsverrat und heimtückischen Attentaten gezogen, das sichaus der Zeit des zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart spannt.

Der Erstling von Gard Sveen, Der letzte Pilger, widmet sich damit einem Thema, das in Norwegen immer noch heikel ist. Die Rolle des Widerstands bei der Ermordung von Kollaborateuren wurde nie gänzlich aufgearbeitet, viele ehemalige Widerstandskämpfer nahmen gleich nach dem Krieg Schlüsselpositionen in Regierung und Wirtschaft ein und unterdrückten jegliche Erforschung ihrer Tätigkeit während der Besatzungszeit. Sveen, selbst Seniorberater im norwegischen Verteidigungsministerium, stellt in seinem sorgfältig recherchierten Werk nun die Frage: Was, wenn einen diese finstere Vergangenheit einholt? Was, wenn die Helden gar keine waren? Nicht nur für seinen Kommissar Bergmann ein schmerzhafter Prozess, der zu unangenehmen Erkenntnissen führt.

Kein Wunder, dass dieser Kriminalroman erst als zweites Debut nach Jo Nesbøs Der Fledermausmann 2013 mit dem wichtigsten norwegischen Literaturpreis, dem Riverton-Preis, und dem Glass Key Award für den besten skandinavischen Krimi ausgezeichnet wurde. An Der letzte Pilger ist einfach alles stimmig: Die Geschichte ist sorgfältig recherchiert und sauber konstruiert, der Spannungsbogen hält trotz 539 Seiten bis zum überraschenden Ende und die Personen wirken in ihren Handlungen glaubwürdig. Das Privatleben des Kommissars wird, wie im sogenannten Nordic Noir üblich, zwar in all seinen schmutzigen Details geschildert, nimmt aber nicht zu viel Raum ein. Die deutsche Übersetzung von Günther Frauenlob steht dem norwegischen Original in Nichts nach. Mein einziger Kritikpunkt: Deutsche Leser, die sich nie mit Norwegens Geschichte auseinandergesetzt haben, werden wohl einige Begrifflichkeiten und Personen, wie zum Beispiel Terboven oder Quisling, nachschlagen müssen. Hier wäre ein kurzes Glossar oder Personenregister nützlich. Auch eine Karte in der deutschen Ausgabe hätte dem Verständnis nicht geschadet – in der Originalausgabe ist ja von einem norwegischen Zielpublikum auszugehen, das sich in dieser Materie deutlich besser auskennt.

Trotzdem gibt es von mir für alle Skandinavien- und Nordic Noir-Fans eine uneingeschränkte Leseempfehlung, selten habe ich ein so langes Buch so schnell fertig gehabt und mir noch gewünscht, dass es doch hundert Seiten mehr hätte. Dieses Buch setzt nicht nur auf pure Spannung, sondern regt gleichzeitig zum Nachdenken über die jeweiligen Motive von „Gut“ und „Böse“ an, so dass es im Gegensatz zu vielen anderen Krimis eben nicht Schwarz und Weiß gibt. Stattdessen herrscht in Der letzte Pilger im positiven Sinne sehr viel düsteres Grau vor.

Gard Sveen – Der letzte Pilger
List, 26.2.2016
539 Seiten
Ebook: 12,99 €
Broschiert: 14,99 €

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