Pitchblacks Prosa: Klassiker I

1984_cover

Du wirst beobachtet!

Jeder einzelne Schritt, den die Menschen tun, wird beobachtet. Alles was wir sagen und schreiben, mit wem wir uns unterhalten, wo wir arbeiten und was wir essen, wird aufgezeichnet und analysiert. Nichts ist sicher, alle Daten werden ausgelesen. Zu entkommen ist fast unmöglich. Und über allem schwebt die Propaganda einer politischen Elite, die die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf immer fortwährende Krisen lenkt, um zu verschleiern, wie miserabel das Leben doch ist.

Man könnte zynisch behaupten, dass das aus der Kommentarspalte einer Tageszeitung stammt oder einfach nur eine beliebige, noch nicht einmal zu pessimistische Sicht der Dinge ist. Tatsächlich aber ist es einfach nur eine knappe Beschreibung der Ausgangssituation eines Buches, das mit unserer Gegenwart gar nichts zu tun hat. Gar nichts zu tun haben kann, denn es ist das erste Mal 1949 erschienen. Es dreht sich um das Meisterwerk von George Orwell, den Roman 1984.

Nicht erst seit kurzem gehört 1984 zu den absoluten Klassikern der Science Fiction (was es von Orwells Standpunkt, Ende der Vierziger sicher war). Es zeichnet ein sehr dystopisches Bild einer noch recht fernen, aber nicht ungreifbaren Zukunft, und auch wenn einige Elemente doch ziemlich ins Extrem gehen, so scheinen uns manch andere auch heute, 31 Jahre nach der Zeitlinie des Buches, erschreckend real.

In der Geschichte beobachten wir das Leben von Winston Smith. Er lebt in London und ist ein kleines Mitglied der Partei. Sein Alltag, den wir zunächst kennenlernen, besteht aus wenig mehr als seiner Arbeit im so genannten Ministerium für Wahrheit, was nichts anderes als ein Propagandaministerium ist. Hier wird die Geschichts- und Nachrichtenschreibung, quasi die komplette Vergangenheit, zugunsten der Partei und ihrer Ziele manipuliert und beeinflusst. Selbst die Frage, ob es tatsächlich das Jahr 1984 ist, kann sich Winston nicht mit abschließender Sicherheit beantworten. Zusammen mit den Ministerien für Frieden, für Überfülle und Liebe kontrolliert die Elite der Partei die Geschicke der Menschen. Und über allem schwebt die Drohung des Großen Bruders. Er ist der Führer der Partei, und er sieht alles. Mit Hilfe der Gedankenpolizei, die überall Spitzel und Streifen hat, und der Teleschirme, die quasi in jedem Gebäude und jedem Raum hängen, überwacht der Große Bruder alles, auch wenn er persönlich nie zu sehen ist. Überlebensgroße Poster, die das Gesicht des Bruders darstellen sollen und ebenfalls beinah überall hängen, erinnern den Protagonisten Winston auf Schritt und Tritt an diese Überwachung. Schon auf den ersten zwanzig Seiten ist man als Leser heilfroh, nicht mit dem armen Winston – oder sonst jemanden in jenem London – den Platz tauschen zu müssen.
Bald jedoch merkt man, dass auch Winston nicht zufrieden ist mit dem Leben und nicht, wie andere, sich willenlos der Parteidoktrin und ihrem staatlich verordneten Hass unterwerfen kann. Der Hass richtet sich vor allem gegen Emmanuel Goldstein, den gleichfalls nebulösen Gegenspieler des Großen Bruders, und die verfeindeten Nationen. Während London Teil des Superstaates Ozeanien ist, existieren noch Eurasien und Südostasien. Gegen mindestens eine der Nationen ist Ozeanien für gewöhnlich permanent im Kriegszustand. Winston jedoch glaubt nicht daran, dass Goldstein wirklich der Feind ist, er zweifelt sogar daran, dass Eurasien und Südostasien tatsächlich existieren. Für ihn ist vielmehr der Große Bruder selbst der Staatsfeind, und er sehnt sich nach dem Sturz des herrschenden Systems und sucht Gleichgesinnte. Doch damit begibt er sich in große Gefahr, denn die bereits genannte Gedankenpolizei geht nicht zimperlich mit so genannten Gedankenverbrechern um. Bereits früh wird erwähnt, dass schon kleine Abweichungen von der Norm mit dem Tode bestraft werden können.

Als er die junge Julia trifft, glaubt er in ihr eine Gedankenpolizistin zu erkennen. Tatsächlich ist sie aber auch eine Rebellin, die zwar nach außen hin mit glühendem Eifer der Parteilinie folgt, sich tatsächlich jedoch im Geheimen gegen die Staatsgewalt auflehnt, wenn auch nur durch persönliches Verhalten. Mit Winston geht sie eine Beziehung ein, die beide eine Weile unter großen Anstrengungen und Gefahren aufrecht erhalten, bis sie sich entschließen, nach der ominösen „Bruderschaft“, der Untergrundbewegung unter Führung Goldsteins, zu suchen, nicht wissend, dass sie schon die ganze Zeit auf dem Radar des Systems sind.

Alt aber nicht veraltet

Mit den gerade aktuellen Skandalen rund um Geheimdienste und das Abhören von Bürgern und Politikern muss man sich das eine oder andere Mal ins Gedächtnis rufen, dass George Orwell dieses Buch tatsächlich bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hat. Auch wenn man durchaus an einigen eher altmodischen Begriffen merkt, dass seine Zukunftsvision eine Weile her ist, und er damals kaum etwas von den technischen Möglichkeiten heutzutage wissen konnte, beweist Orwell eine unglaubliche Weitsicht. Jeder Bürger ist vernetzt und erfasst. Zu jedem Bürger existiert ein Zugang durch dieses Netz, und seine Daten werden irgendwo gespeichert. Was von wem in welchem Umfang bekannt ist, weiß niemand. Und niemand weiß, ob er tatsächlich in diesem Moment gerade beobachtet wird oder ob er einfach nur an Verfolgungswahn leidet. Der Große Bruder als Metapher für eine Maschinerie, die nicht mit Waffen, sondern mit Informationen kämpft. Wie man am Eingang dieses Begriffes in den allgemeinen Sprachgebrauch sehen kann, ist der Große Bruder auch über 60 Jahre nach seiner Erfindung keineswegs veraltet.

Auf jeden Fall ist 1984 von George Orwell eine gute Leseempfehlung für jene, die diesen Klassiker noch nicht kennen, sich aber mit der aktuellen Situation auseinandersetzen, und eine gute Empfehlung zum Wiederlesen für jene, die das Buch kennen. Auf jeden Fall ein erhobener Zeigefinger.
Und selbst wenn all dies nicht, so ist es doch ein hervorragender Roman, der nur als Klassiker empfohlen werden kann.

Titel: 1984 (in der Übersetzung von Michael Walter)
Autor: George Orwell
Verlag: Ullstein
Erstveröffentlichung: 1949
Preis: ab 9,95 € (Amazon)

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