Mehr als nur drei Akkorde
Welche war die erste deutsche Punk Band? Darüber gehen die Meinungen auseinander, und hundertprozentig nachvollziehen kann man das wohl auch nicht mehr. Fest steht allerdings, dass die 1977 gegründeten PVC ganz vorne mit dabei sind, in Berlin sind sie definitiv die erste.
Das Cover des Buches Berlin, Punk, PVC ziert das berühmte Bandfoto von 1977, PVC an der Berliner Mauer, symptomatisch für die damalige Zeit, aber auch symptomatisch für PVC und deren Hymne „Wall City Rock“. Die Oberfläche fühlt sich rau an, eine originelle Analogie zum Mauerbeton. Auch die einzelnen Buchseiten sind oben und unten angegraut und wirken so etwas schmuddelig, passend zum Thema Punk und Berlin. Weitere Fotos gibt es im Innenteil an passenden Stellen eingestreut. Inhaltlich beginnt das Buch mit einem Vorwort von Bela B. von Die Ärzte, der keinen Hehl aus seinem Respekt vor PVC und Gerrit Meijer macht.
Der 1947 geborene Meijer selbst erzählt chronologisch aus seinem bewegten Leben und beginnt dabei in der Kindheit. Wir erfahren, wie man im Nachkriegsberlin mit dieser neuen Musikrichtung namens Rock ’n‘ Roll aufwächst. Sein erstes Konzert erlebt er Ende der Schulzeit 1962 mit Drafi Deutscher and his Magics. In der folgenden Lehre eckt Meijer immer wieder an, ihn interessiert mehr die neue Beat-Musik, die sich langsam auch in Berlin entwickelt. Beatles und Rolling Stones motivieren Meijer zum Gitarrenspielen, und er wird einer der ersten Pilzköpfe. Diese neue Modebewegung ruft hasserfüllte Reaktionen der Medien und der Gesellschaft hervor. Hierin sieht Meijer den Beginn der Politisierung der Jugendlichen und damit die Keimzelle der bald folgenden Studentenrevolte und der späteren Punkbewegung. 1965 wird Meijer Mitglied der Beathovens, mit denen er seine ersten Konzerte spielt, und die sich wegen einer Namensgleichheit in The Voodoos umbenennen. Die Band bestreitet 65 Auftritte bis zur Auflösung. Musik und Platten sammeln wird seine Obsession. Nach der ersten Freundin Marlies geht es auch mit der großen Liebe Gisela bergab. Zusätzlich gehen ihm die Spät-Hippies, die oft nur leere Parolen quatschen und die dazugehörige Musik auf die Nerven. Weihnachten 1975 bezieht Meijer allein eine neue Wohnung mit nichts außer einer Gartenliege und seiner Plattensammlung. Er ist am Ende.
Auf der Suche nach dem Rock ’n‘ Roll im Leben stößt er im New Musical Express auf einen Bericht über die Ramones und spürt instinktiv, das ist das neue Ding. Bei einem London-Trip 1976 erlebt er im Hope and Anchor mit The Damned sein erstes Punkkonzert. Im Nashville begeistern ihn The Vibrators – Motörhead im Roundhouse dagegen lassen ihn kalt. 1977 schwappt Punk endlich auch nach Deutschland, und am 25. Februar spielen The Vibrators das erste Berliner Punkkonzert. Im Publikum dabei sind Knut Schaller, Raymond Ebert, Jürgen Dobroszcsyk und Gerrit Meijer, die zur Urbesetzung von PVC werden.
Das erste Konzert spielen PVC am 6. August 1977 im Übungskeller, weitere folgen kurz darauf als Vorband der Vibrators und Iggy Pop. Das Konzert am 6. Oktober bringt für PVC und das Punkhouse, wo der Gig stattfindet, den Durchbruch. Als das SO36 am 11. August 1978 seine Pforten für Punkfans öffnet, spielen PVC den Headliner-Gig des Abends. Wegen bandinterner Querelen ist 1979 mit PVC erst einmal Schluss, und Meijer gründet die New Wave Band White Russia. Die weitere Entwicklung von PVC ist eine wechselhafte Geschichte zwischen Auflösung, Wiedererweckung, Studioaufnahmen und verpassten Chancen, so dass erst mit einiger Verspätung nur zwei reguläre Alben veröffentlicht werden. 1989 kommt es sogar zu einer Single mit Bela B., die sich allerdings nur schlecht verkauft. Bereits 1990 stirbt Knut Schaller an Aids, später stirbt auch Jürgen Dobroszcsyk. Dennoch hält Meijer immer wieder an seiner Idee von PVC fest. Am 10. März 2012 spielen PVC das allerletzte Konzert im Berliner Wild at Heart. Doch Meijer hängt die Gitarre nicht etwa an den Nagel, denn bis zuletzt schreibt er an neuen Songs und nimmt diese im privaten Rahmen zu Hause auf. Am 17.02.2017 stirbt mit Meijer einer der Urväter des deutschen Punk unerwartet an einem Herzinfarkt, am 12. März wäre er 70 Jahre alt geworden. Sein Vermächtnis bleibt.
Fazit: Es wird klar, dass PVC wegweisend für die Geschichte des Punk speziell in Berlin, aber auch Deutschland insgesamt gewesen sind. Klar wird aber auch, PVC waren immer mehr als die szenetypische Drei-Akkorde-Schrammel-Punkband. Von Beginn an haben sie viel geübt und beherrschten ihre Instrumente, im Gegensatz zu manch anderen, die später berühmter geworden sind. Vor allem Meijer ist ein Vollblutmusiker, immer auf der Suche nach künstlerischer Weiterentwicklung. Und zugunsten seiner Entfaltung ist er oft den unbequemen Weg gegangen, vielfach unverstanden von engstirnigen und rückwärtsgewandten Anhängern der deutschen Punk-Szene. Einheitslook-Saufen-Prollpunks hat er immer abgelehnt.
„Die unzensierte Geschichte“ heißt es im Untertitel, und das merkt man. Zum einen hält Meijer nicht hinterm Berg mit seiner Meinung, zum anderen ist diese Geschichte wahnsinnig ausführlich. Er muss Tagebücher geführt haben, anders kann ich mir die Detailfülle nicht erklären. Was zum einen die große Stärke von Berlin, Punk, PVC ist, ist zum anderen aber gleichzeitig auch ein bisschen die Schwäche, da diese Detailfülle stellenweise auf mich etwas ermüdend wirkt und zu einem Punkt Abzug führt. Dennoch gibt es eine klare Kaufempfehlung, weil man außer über PVC wirklich viel über die Anfänge des Punk in Berlin erfährt und schöne Anekdoten erzählt werden. Man lernt nebenbei auch einige Lokale kennen, zum Beispiel das White Horse in Lichterfelde, das Closed Eye in der Bundesallee, den Psychedelic-Tempel Sun, das Punkhouse in der Lehniner Straße und natürlich das legendäre SO36 in Kreuzberg.
Gerrit Meijer – Berlin, Punk, PVC
Neues Leben, 02.09.2016
Taschenbuch, 256 Seiten, Klappenbroschur
19,99 €, als Ebook 16,99 €, erhältlich über eulenspiegel.com
Homepage: eulenspiegel.com/verlage/neues…itel/berlin-punk-pvc.html
pvc-wallcityrock.de
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