Nietenbesetzte Lederjacken für alle ist kein Credo, dem ich mich anschließen kann
Die legendären Sex Pistols gelten gemeinhin als eine der ersten Punkbands der Welt, und deren Sänger John Lydon, den meisten besser bekannt als Johnny Rotten, hat mit Anger is an energy seine Autobiographie verfasst. Nach den Sex Pistols gründete Lydon die Band Public Image Limited, kurz PiL genannt, mit der er bis heute aktiv ist. Erst letztes Jahr ist er auf dem Wave Gotik Treffen aufgetreten und hat eine beeindruckende und energiegeladene Show präsentiert.
Viel ist in den letzten vierzig Jahren über die Sex Pistols und Johnny Rotten geschrieben worden, und es wurden unzählige Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügen verbreitet. Von Presse, Politikern und Establishment wird er leidenschaftlich gehasst. Doch davon lässt er sich trotz aller Schwierigkeiten nicht fertigmachen, im Gegenteil – es nährt seine Wut, die er in kreative Energie umsetzt, was zu seinem Lebensmotto wird und so auch den Buchtitel liefert: Anger is an energy. Nun hat er die Möglichkeit, mit allen und allem aufzuräumen und seine Geschichte und seine Sicht der Dinge zu präsentieren. Dabei verspricht er bei der Wahrheit zu bleiben. „All I want is the truth. Danke, John Lennon.“
Lydon berichtet als neutraler Erzähler, soweit man persönlich neutral bleiben kann, über sich in chronologischer Reihenfolge und fängt dabei in frühester Kindheit an. Der Leser erfährt viel über ihn: In welchen Verhältnissen Lydon im Nachkriegsengland aufgewachsen ist, über eine Meningitis-Erkrankung als Kind und die darauffolgenden Schwierigkeiten in der Schule. Stück für Stück setzt sich das Puzzle zusammen, wie John Lydon zu dem wütenden jungen Mann heranreift, der als Johnny Rotten sowohl die Musikwelt als auch die Gesellschaft nachhaltig beeinflussen wird. Sehr interessant sind natürlich die Anekdoten um die legendäre Boutique Sex in der King Street von Vivienne Westwood und Malcom McLaren. Nach Lydons Aussage kamen die Sicherheitsnadeln aus reiner Notwendigkeit zum Punk, weil die Klamotten von Westwood mies genäht waren und ständig auseinanderfielen. Auch der Einfluss von McLaren als Manager der Sex Pistols, die in diesem Umfeld gegründet worden sind, soll eher gering gewesen sein, bzw. im Grunde genommen habe der nichts auf die Reihe bekommen, um die Band voranzutreiben. Lydon beleuchtet die frühen Tage des Punk und die Entwicklung der Sex Pistols, die Probleme mit der Obrigkeit, den Fans und bandintern, die zum Rausschmiss von Glen Matlock führen, woraufhin Sid Vicious den Posten am Bass bekommt.
Spätestens mit Sid Vicious‚ Drogentod ist die Band am Ende, und so geht es nach den Sex Pistols mit Anekdoten der neuen Band PiL weiter. Auch hier gibt es Schwierigkeiten und jede Menge Besetzungswechsel. Interessanterweise erklärt Lydon immer wieder einmal, welchen Ideengrundlagen verschiedene Songs entstammen, und unter welchen Umständen einige Alben aufgenommen worden sind. Er beleuchtet den Einfluss, den sein Umzug nach Kalifornien mit sich brachte und erzählt über seine Fernsehsendung Rotten TV. Später macht er bei der britischen Ausgabe des Dschungelcamps mit und berichtet über seine Erfahrungen. Danach bietet sich die Möglichkeit von Naturdokumentationen: John Lydon’s Shark Attack, John Lydon goes Ape und John Lydon’s Megabug.
Auch persönliche und die Familie betreffende Dinge werden nicht ausgelassen, egal ob diese nun positiv oder negativ ausfallen. Darüber hinaus werden immer wieder Kapitel eingestreut, in denen Lydon seine Rolle als Beobachter verlässt und offen persönliche Meinungen und Erfahrungen schildert. Dies wird durch die unterschiedliche Typografie besonders verdeutlicht. Diese Kapitel sind naturgemäß sehr interessant, weil sich hier Lydons Persönlichkeit unverfälscht offenbart. Die Herkunft seines Künstlernamen Rotten wird schließlich ebenfalls verraten.
Abgerundet wird das Buch sehr schön durch drei mehrseitige Fotoeinlagen und einen umfangreichen Index am Ende, so dass es auch als Nachschlagewerk zu Personen, Bands, Alben/Songs und Ereignissen benutzt werden kann.
Fazit: Anger is an energy ist ein sehr interessant zu lesendes Buch, bei dem keine Langeweile aufkommt. Der Leser erhält einen tiefen Einblick in die Welt von John Lydon und seine Eigenheiten und auch, wie er die Entwicklung des Punk beurteilt. „Die sexuelle Neugier, die Glamrock auslöste – Bowie, der sich hinstellte und fragte: ‚Mit welchem Recht wollt ihr mir Vorschriften machen?‘ – war der Nährboden für Punk. Punk kam nicht über Nacht, er speiste sich aus all diesen Quellen. Es war ein allmähliches Herantasten ans gottverdammt Offensichtliche.“ Seiner Meinung nach war die weibliche Komponente im Punk sehr wichtig in der Anfangszeit, Gleichberechtigung gehörte selbstverständlich dazu. Und so waren weibliche Musiker ganz normal wie in wichtigen Bands wie X-Ray Spex oder The Slits. In der heutigen Zeit ist Punk häufig sehr männlich dominiert und testosterongeschwängert, und Bands werden mit „All-Female“ oder „Female-Fronted“ promotet, was im Grunde genommen sexistisch ist, und das ist nicht im Sinne von Punk. Im Punk ging es unter anderem darum, sich von Normen und Konventionen zu befreien, und die engen Grenzen, die manche Menschen darum ziehen, was nun Punk sei und was nicht, kann Lydon nicht akzeptieren: „Nietenbesetzte Lederjacken für alle ist kein Credo, dem ich mich anschließen kann“.
Naturgemäß ist so eine Autobiographie vor allem für Fans interessant, bietet aber zusätzlich Hintergrundwissen aus erster Hand zu einer der einflussreichsten Musikepochen aller Zeiten. Auch in der deutschen Übersetzung kommt die teilweise derbe Sprache gut rüber, denn obwohl Lydon mit Andrew Perry einen Co-Autor an seiner Seite hatte, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Johnny Rotten lässt sich nicht zensieren. Dennoch hätte ich mir bei manchen Passagen gewünscht, diese unverfälscht im Original zu lesen.
John Lydon: Anger is an energy
Heyne Hardcore, 11.05.2015
Gebundenes Buch im Schutzumschlag, 656 Seiten
24,99 €, als Ebook 19,99 €, erhältlich über buecher.de
Homepage: twitter.com/lydonofficial?lang=de
pilofficial.com/info.html
sexpistolsofficial.com/
randomhouse.de/Buch/Anger-is-a…eyne-Hardcore/e469335.rhd
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