27 Jahre allein im Wald

Finkel_MDer_Ruf_der_Stille_179981Christopher Knight ist jung, hat eine Familie, einen Job und ein neues Auto, und dennoch spürt er, dass er nicht in die Gesellschaft passt. Die auferlegten gesellschaftlichen Rollenspiel-Schemata, das Agieren mit anderen Menschen fallen ihm schwer. Und so steigt der Zwanzigjährige 1986 eines Tages einfach in sein Auto und fährt los, ziellos. Am Ende seines Roadtrips fährt er immer tiefer in die Wälder, bis das Benzin zur Neige geht. Den Wagen lässt er einfach stehen und zieht zu Fuß weiter. Obwohl er keinerlei nennenswerte Outdoor- oder Survival-Erfahrung besitzt, richtet er sich am North Pond in Maine in einem unzugänglichen Waldabschnitt ein kleines Lager ein. Dieses ist vor der Welt geschützt durch dichte Bäume und große Findlinge, die das Lager umgeben und zugleich den Zugang verstecken.

Alles, was er zum Leben und Überleben braucht, stiehlt Knight bei nächtlichen Einbruchstouren in den Urlaubshütten um den See und einem Feriencamp für behinderte Kinder und übersteht auf diese Weise sogar die härtesten Winter in seinem Zelt. Obwohl die nächste Hütte nur drei Minuten entfernt liegt, wird er in seinem Lager nie entdeckt. Gleichwohl wird er eine lokale Legende, der Eremit vom North Pond, ein Phantom, das niemand kennt oder fangen kann. Bis er 2013 nach 27 Jahren doch noch bei einem Einbruch erwischt wird.
Der Journalist und Autor von Der Ruf der Stille, Michael Finkel, hört über die Medien von dem Fall und nimmt Kontakt zu Christopher Knight auf. Es gelingt ihm, über Briefe eine Verbindung zu dem verschlossenen Menschen aufzubauen, und er besucht ihn neun Mal für eine Stunde im Gefängnis. Auch beim Prozess ist er dabei und sucht ihn auch hinterher zuhause auf. Diese Begegnungen und die Korrespondenz bilden die Grundlage des Buches. Finkel beschreibt zum einen das Lagerleben von Knight und seine Überlebenstechniken, zum anderen versucht er einen Einblick in die Psyche von Knight zu geben. Dazu hat er auch viele Gespräche mit Experten, Einbruchsopfern und Prozessbeteiligten geführt und nähert sich so Schritt für Schritt dem Mysterium Christopher Knight.

Fazit: Absolut faszinierend. Wohl jeder von uns hat von Zeit zu Zeit mal die Nase voll – vom Job, vom Stress, von Verpflichtungen, von zu vielen Menschen, von der Gesellschaft, von allem – und man träumt davon, einfach auszusteigen. Und dann ist da Christopher Knight, der genau das einfach getan hat, in aller Konsequenz. 27 Jahre hat er in absoluter Einsamkeit in einem einfachen Zelt im Wald in Maine gelebt und überlebt, trotz sechsmonatiger Winter mit Temperaturen bis minus dreißig Grad. Unvorstellbar, und man kommt um eine gewisse Bewunderung nicht herum. Dennoch konnte auch Knight nicht autark überleben, denn alles, was er zum Leben brauchte, stahl er aus den umliegenden Hütten. Obwohl er der Gesellschaft und den Menschen, die er für sich ablehnte, den Rücken kehrte, war er dennoch auf sie angewiesen.
Knight beschreibt Finkel in einem der Treffen die stille Dame der Wälder, die er in einer Nahtod-Erfahrung gesehen zu haben glaubt. Eine Person, die für ihn den Tod versinnbildlicht. Auch wenn die Umstände völlig anders waren, hat mich das an mein Erlebnis im japanischen Aokigahara Suicide Forest letztes Jahr erinnert (Link zum Bericht) und schlagartig alle Gefühle zurückgebracht.
Dieses Buch regt zum Nachdenken an, und wahrscheinlich kann jeder daraus für sich positive Schlüsse ziehen, egal wie man die Taten von Knight persönlich bewertet. Vielleicht auch auf einem einsamen Waldspaziergang.

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Michael Finkel: Der Ruf der Stille
Goldmann Verlag, 25.09.2017
Gebundene Ausgabe, 256 Seiten
18,00 €, als eBook 13,99 €, erhältlich über www.buecher.de
Homepage: randomhouse.de/Buch/Der-Ruf-de…nkel/Goldmann/e524536.rhd

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