234 Seiten Poesie

Gaiman_Der_Ozean.indd„Als ich sieben Jahre alt wurde, kam niemand zu meiner Geburtstagsfeier.“ Das ist die erste Erinnerung, die zurückkommt, als der namenlose 49-jährige Mann in die Heimat seiner Kindheit zurückkehrt. Das Elternhaus wurde längst abgerissen, doch er fährt weiter die Straße entlang, bis hin zu einem uralten Gehöft, wo ihn die Familie seiner alten Freundin Lettie Hempstock so herzlich begrüßt wie eh und je. Um seine Gedanken zu sortieren, setzt er sich an den Ententeich, der gar kein Ententeich war – denn glaubte man Lettie Hempstock (und das tat er), dann war er ein Ozean. Und als er sich dieser Erinnerung bewusst wird, kommen auch alle anderen wieder und brechen wie die Brandung des Ozeans über ihn herein.

Der Ozean am Ende der Straße ist ein Buch, über das ich gar nicht viele Worte verlieren möchte, denn es ist mir unmöglich, diese 234 Seiten pure Poesie auch nur annähernd so zu beschreiben, wie sie es verdienen.
Es ist ein Buch über Erinnerungen und die Streiche, die sie einem spielen, über die tiefe Melancholie eines sehr einsamen Kindes und die unendliche Schönheit einer Welt, die wir im Alltag nur sehr selten sehen können.
Neil Gaiman hat eine einzigartige Art, so zu schreiben, dass man vor Verzweiflung Stiche im Herzen spürt und die Hände um den Buchdeckel verkrampft. Eine nüchtern betrachtet fast banale, etwas abstruse Geschichte, in der nicht viel erklärt wird, wird durch sein Handwerk zu purer Magie, deren Hintergründe man nicht verstehen muss und auch nicht verstehen will. Man muss sich einfach von Lettie Hempstock an die Hand nehmen und führen lassen, ihr ganz vertrauen, dann verliert man sich vollständig in dieser Geschichte und bemerkt überhaupt nicht, wie die Seiten nur so dahinfliegen.
Man kann den Roman problemlos auch einem Kind vorlesen, denn mit einer kleinen „Komm nicht vom Wege ab“-Analogie hat es durchaus märchenhafte Züge, doch Neil Gaiman schreibt keine Märchen. In seiner Welt gibt es keinen strahlenden Helden, der alles wieder geraderückt. Man muss Entscheidungen treffen und dann mit allen Konsequenzen leben, auch wenn sie einem das Herz brechen. Trotzdem bleibt zwischen all dieser bittersüßen Melancholie immer noch die Schönheit einer Welt, die über das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes hinausgeht und nur emotional wahrgenommen werden kann.

In der Übersetzung aus dem Englischen ist der wunderbare Gaiman’sche Stil glücklicherweise erhalten geblieben, und die deutsche Ausgabe legt sogar noch ein paar schöne Illustrationen oben drauf, die ich aus dem Original nicht kannte.
Der Ozean am Ende der Straße ist ein unvergleichliches Meisterwerk der modernen Fantasy-Literatur, und ich werde mich hüten, eine „für Fans von …“-Empfehlung abzugeben, denn ich kann und will es mit nichts anderem in einen Topf werfen. Ich kann es nur jedem ans Herz legen, der sich gern in einem Buch verliert.

:buch: :buch: :buch: :buch: :buch: :buch: (ja, dafür gibt’s 6/5 Lesern!)

Neil Gaiman – Der Ozean am Ende der Straße
Eichborn Verlag, 2014
238 Seiten
18,00€
eBook: 13,99€

Eichborn Verlag

Autorenportrait Neil Gaiman

http://www.neilgaiman.com/

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2 Kommentare
  1. DH
    DH sagte:

    Das Buch ist echt der Hammer und ich bin mit allem voll einverstanden, was du schreibst, nur mit einem nicht: Ich würde es keinem Kind vorlesen. Weil ich finde, dass man sich vor Ursula Monkton und einem Vater, der einen in der Badewanne ertränken will, sogar als Erwachsener fürchtet. :( Ich hab Neil übrigens gestern zu dem Thema interviewt, als er in Wien war: http://www.vienna.at/neil-gaiman-in-wien-von-kindheit-horror-magie-und-lieblingscharakteren/4124513

    • enchantress
      enchantress sagte:

      Danke =)
      Ich finde schon, dass es kindertauglich ist. Bei den Gebrüdern Grimm werden auch Großmütter gefressen und Kinder im Wald ausgesetzt ;)
      Ein tolles Interview!

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