„In ihren Träumen fliegt sie“
George ist 48, unheimlich liebenswürdig, künstlerisch begabt, aber laut seiner Ex-Frau nur ein „fünfundsechzig-Prozent-Mann“, wo doch jede Frau normalerweise mindestens 70 % bräuchte. Irgendwie hat er sich damit abgefunden verlassen zu werden. Eines Nachts wird er durch ein Geräusch geweckt, das er nur als „Wehklagen“ beschreiben kann, und er entdeckt in seinem Garten einen verletzten Kranich. Mitten in London? Egal, das arme Tier hat einen Pfeil im Flügel stecken, und George hilft ihm aus seiner misslichen Lage. Am nächsten Tag taucht die mysteriöse Kumiko in seinem Laden auf und beginnt die Kunst der beiden in etwas ganz Einzigartiges zu verwandeln und ihn und sein Leben völlig zu verändern.
Worum geht es nun eigentlich? Die Nacht des Kranichs lässt sich schwer greifen, der Roman spricht den Leser auf einer sehr emotionalen Ebene an und hinterlässt ein tiefes, melancholisches Gefühl. Er erzählt von Beziehungen verschiedenster Art und von großer Liebe. Davon, dass Liebende einander manchmal nur verletzen können, obwohl (oder gerade weil) sie einander lieben. Und irgendwie endet das Ganze dann in einer Katastrophe, die sowohl ein Happy End sein kann, als auch der Beginn einer neuen Geschichte.
Geschichten sind nie gleich, sie entwickeln sich, leben und unterscheiden sich durch den jeweiligen Erzähler. Fünf verschiedene, alternative Szenarien führen zum Höhepunkt hin und machen eins deutlich: Es ist ganz egal, wie und warum genau etwas passiert – was notwendig ist, das wird passieren, auch, wenn es zu keinem Happy End führt, oder nur auf eine bestimmte Art und Weise.
Einzigartig und auch ein bisschen eigenartig, das ist dieses Buch. Das erste Kapitel könnte im Grunde für sich allein als poetische Kurzgeschichte stehen. Ness schreibt wunderschön, sehr kunstvoll und mit einem Gefühl für Worte, das auch seine Hauptperson George teilt. Der Stil ist gerade in Dialogen ein wenig assoziativ und gewöhnungsbedürftig, was aber zur Geschichte passt und nicht unangenehm wirkt. Die Nacht des Kranichs ist irgendwie kryptisch, sinnbildlich, vielleicht teilweise ein wenig zu abstrakt. Es erinnerte mich oft an Rebecca Goldsteins Eigenschaften des Lichts und hinterließ bei mir ein schwer zu beschreibendes Gefühl zwischen Ahnungslosigkeit und Melancholie.
Patrick Ness hat mit Die Nacht des Kranichs ein ganz leises, ruhiges Buch geschrieben, das den Leser in einen magischen Bann schlägt. Mit wunderschönen Worten erzählt es eine Geschichte, die außergewöhnlich und zugleich schlicht ist. Trotzdem glaube ich nicht, dass es ein Buch für jedermann ist, was vielleicht gut ist.
Patrick Ness ist gebürtiger Amerikaner und lebt seit den 90ern in London, wo er Kurzgeschichten, Romane und Drehbücher schreibt. Die Nacht des Kranichs ist sein siebter Roman.
Trivia: Inspiration für Die Nacht des Kranichs war ein Lied von The Decemberists – der Band von Wildwood-Autor Colin Meloy.
Patrick Ness – Die Nacht des Kranichs
Goldmann Verlag, 2014
315 Seiten
eBook: 15,99€
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Ich mag Bücher, die „Magisch“ Ruhig und leise sind.
Da werde ich mal reinlesen