Erwachsenwerden in den 1970er Jahren

Untermenzing, ein Vorort von München, in den 1970er Jahren. Hier wächst der 12-jährige Peter Gillitzer auf, umgeben von einer liebevollen Mutter, einem strengen Vater und zwei Brüdern, erzogen im Geist der katholischen Kirche, und – wie könnte es anders sein – tätig als Ministrant. Ein großes Vorbild für ihn ist Franz Josef Strauß, für dessen Partei er sich auch schon mal stark macht – und mit dem er über ein Poster in seinem Zimmer Zwiesprache hält (nicht nur mit ihm, durch einen Zufall kommt noch die Pietà von Michelangelo dazu). Er ist kein Anführer, möchte aber in seinem schulischen Umfeld wahrgenommen werden, was manchmal nicht klappen will. Noch dazu scheinen seine Schulkameraden wesentlich mehr Ahnung vom Umgang mit Mädchen zu haben. Die weiblichen Wesen in seinem Alter rücken immer mehr auch in Peters Fokus, aber wie mit diesen Wesen umgehen, und was ist das eigentlich mit diesem Händchenhalten? Noch dazu gibt es da dieses Heft, in dem er unbekannte Wörter sammelt, die er irgendwann erklärt bekommen möchte, zum Beispiel „Unbefleckte Empfängnis“ oder „Unzucht“ – allerdings ist ihm seine Familie da keine Hilfe, denn über diese Wörter spricht man nicht zu dieser Zeit und in dieser Familie, geschweige denn fragt man danach. Eine schwierige Zeit für einen Jungen, der in der Pubertät ist, anfängt zu rebellieren und die Jugend-Revolte in den 70er Jahren hautnah mitbekommt.

Beim Lesen von Wie ich den Sex erfand schweifen meine Gedanken immer wieder ab in die eigene Kindheit. Gut, ich bin sieben Jahre später geboren, allerdings kommt mir die verklemmte Erziehung bekannt vor. Der Vater bringt wenig Lob über die Lippen für seinen ältesten Sohn, erst beim Entdecken von Peters Anteil am Entfernen von SPD-Plakaten trägt ihm dies eine leise Anerkennung ein. „Periode ist eine Zeit, in der Frauen komisch sind“ wird man heute nicht mehr zu hören bekommen, allerdings war das damals nicht ungewöhnlich, ich glaube für viele, die Ende der 50er- bis Mitte der 60er- Jahre geboren wurden. Aber genau diese unterhaltsamen Einflechtungen machen das Buch so erfrischend, mal ganz abgesehen von den Unterhaltungen mit FJS (mit dem ein oder anderen wegweisenden Rat) oder der Pietà von Michelangelo. Peter muss für seine sexuelle Aufklärung und so manches fragliche Wort einen Umweg über einen Kiosk nehmen (herrlich!). Und dann die erste Party, die einem erlaubt oder verboten wird, je nach Beteiligung und Ausrichter – ja, da sind wir wieder völlig im Einklang. Ach ja, Kindheitserinnerungen sind etwas Schönes, wenn man dies als Erwachsener betrachten kann.

Peter Probst war mir bisher nur von einer Krimi-Lesung in 2013 bekannt, mit seinem neuen Buch erzählt er unterhaltsam und mit viel Lokalkolorit vermutlich von seiner eigenen Kindheit, natürlich mit ausgeschmückten Anteilen. Das Erwachsenwerden machen ihm seine Eltern nicht leicht, es gibt so viel Ungesagtes, auf das der Teenager aber letztendlich von alleine stößt, dieser Weg dahin ist gut erzählt. Gegen Ende des Romans nimmt der Verlauf gewaltig an Fahrt auf, also das Dranbleiben lohnt sich von Anfang an, obwohl das erste Drittel sich etwas hinzieht. Peters Fragen werden beantwortet, und das mit den Mädchen bekommt ein großes Finale.

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Peter Probst: Wie ich den Sex erfand
Kunstmann Verlag, Vö. August 2020
22 € Buch – 20 € Hörbuch – 16,99 € E-Book

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