Herzzerreißende Erinnerungsfetzen

1987, mitten in der Zeit der Föhnwellen und Schulterpolster, kam diese zierliche, junge Frau mit Glatze und rotzte freche, wütend klingende Songs wie „Mandinka“ aus einem Album namens The Lion and the Cobra heraus. Toll! Ich war Sinéad O’Connor von Stunde Null an verfallen. Es gab sehr bald im Schlachthof (!) in München ein Konzert mit ihr, und ich erinnere mich noch, wie sie plötzlich unvermittelt, ich weiß nicht wie, neben mir auftauchte und mich streifte vor dem Konzert, in ihren schwarzen Gymnastikhosen und einem Sport-Top. 1990 kam dann ein Lied heraus, das mich zu Tränen rührte und selbst jetzt immer noch bewegt. Sie interpretierte „Nothing compares 2 U“, im Original von Prince, und ich war wieder hin und weg. Viele Jahre blieb ich Sinéad O’Connor treu, aber irgendwann verlor ich sie aus Augen und Ohren.

Ich hörte zwar gerne ihre alten Alben, hörte aber auch von verbrannten Papstbildern, sah Bilder mit Kopftuch und allerlei Klatsch, der mich nicht interessierte. Nun wurden mir ihre Erinnerungen zur Rezension angeboten, und was soll ich sagen? Ich war gefesselt!

Locker und flockig schreibt Sinéad in der Gegenwartsform ihre Erinnerungen auf. Das steht ganz im Gegensatz dazu, wie ihre Kindheit war. Auf den ersten Seiten stockt mir schon der Atem, weil ich das Beschriebene gar nicht fassen kann. Sinéad hat im Irland der 60er Jahre mehrere Geschwister und beide Elternteile; auch weil man sich im erzkonservativen Land nicht scheiden lässt. Ihre Mutter ist eine Horrormutter. Sie schlägt und schikaniert alle Kinder, manche mehr, manche weniger. Die kleine Sinéad wendet sich in ihrem Unglück an Lehrer, an Priester, an Nachbarn, sie möchte adoptiert werden, sie betet in Lourdes, aber keiner erhört sie. Sie ist das Kind, das am letzten Schultag vor den langen Ferien weint und so tut, als hätte es seine Feldhockeyschläger verloren, weil es damit den ganzen Sommer geschlagen wird. Stattdessen greift die Mutter einfach immer und immer wieder zum Staubsaugerrohr. Dennoch liegt Sinéad viel an ihrer Mutter, sie möchte geliebt werden, sie will ihr gefallen. Dazu gehört, Diebesgut mit nach Hause zu bringen. Über viele Jahre geht das, bis sich der Vater trennt, ein Teil der Kinder bei der Mutter bleibt, sie aber zu ihrem Vater mit neuer Frau kommt. Musik, Ballett und Tanzen wird ihre Flucht. Schon mit 13 jobbt sie in einem Nachtclub. Dicke Schminke verhilft ihr zu einer Gelegenheit, weit vor Schichtbeginn ganz alleine auf der Tanzfläche tanzen zu können. Sie liebt David Bowie und Barbra Streisand wegen ihrer Fingernägel. Leider eckt sie mit ihrer Art in ihrer neuen Familie an. Sie kommt in ein Klosterinternat, in dem es auch Missbrauch und Repressalien gibt. Man entkommt dort erst, wenn man 18 ist und bereit für einen richtigen Job. Immerhin bemerkt man dort ihr musikalisches Talent. Sie bekommt eine Gitarre, hat Gelegenheit zu singen und entdeckt für sich, dass sie ein Punk ist. 1985, mit 19 Jahren, schaltet sie eine Anzeige, dass sie eine Sängerin ist, auf der Suche nach einer Band. Stück für Stück kommt es zu ihrem ersten Album. Sie lebt nun in London. Man rät ihr, sich ein bisschen weiblicher zu geben, ihr Haar wachsen zu lassen und sich wie ein Mädchen anzuziehen. Als Antwort lässt sie sich den Kopf rasieren. Kurz darauf wird sie schwanger, Jake heißt der kleine Kerl. Sie wächst in ihre Mutterrolle hinein, und sie wird Vollblutmusikerin. Sie muss David Bowie absagen, der sie fragt, ob sie seine Tour eröffnen will, weil sie schon bei INXS unterschrieben hat. Sie wird 1989 für The Lion and the Cobra für den Grammy nominiert und zwei Jahre später für das Nachfolgealbum mit dem Superhit „Nothing compares 2 U“. Von da an folgen unermesslich viele kleine Musiker- und Celebrities-Storys, persönlich aber geht es bergab mit Sinéad. Bei einem Auftritt 1992 zerreißt sie ein Bild des Papstes aus Protest gegen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche. Kritiker behaupten, die Aktion habe ihrer Karriere einen Dämpfer verpasst. Doch sie sagt: „Meine Karriere entgleiste, weil ich einen Nummer-1-Hit hatte. Das Zerreißen des Fotos hat mich wieder auf die richtige Spur gebracht.“ Sie fühlt sich als Punk, ist aber im Mainstream angekommen. Das ist nicht ihre Welt.

Die nächsten Jahre sind geprägt von psychischen Zusammenbrüchen und emotionalen Interviews. Die Erinnerungen werden holpriger. Doch dafür erfährt man viel über ihre Musik, ihre Kinder und die Religion, vor allem ihre Bekehrung zum Islam. Immer wieder mal erzählt sie von ihrer letzten Tournee, vom letzten Album, und immer wieder geht es trotzdem weiter. Im Moment sitzt sie, wie wir alle, sehr viel auf der Couch und macht nichts – außer zuzunehmen. Sie hofft auf eine bessere Welt nach Corona. Ich wünsche es ihr.

Sinéad O‘Connor, geboren 1966 in Dublin, wurde 1990 weltbekannt mit ihrer Interpretation des Prince-Songs „Nothing Compares 2 U“. Sie hat vier Kinder und zwei Enkel und lebt in Irland.

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Sinéad O’Connor: Erinnerungen
Riva Verlag  Vö. 1. Juni 2021
240 Seiten
Gebundene Ausgabe: 20 Euro
E-Book: 15,99 Euro

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