Perspektivwechsel

Pikey Thomas lebt in einem Loch unter einer Apotheke und träumt von Karamelläpfeln und Pflaumen. Eine Fee hat ihm ein Auge gestohlen und eine verdächtige, graue Augenhöhle zurückgelassen. Damit kann er zwar ab und zu Blicke ins Feenland erhaschen, muss das Mal aber ständig verstecken. Seit der schwelende Konflikt mit den Feen in England eskaliert ist und ein Krieg vor der Tür steht, sind die Londoner nicht gut auf Andersartigkeit zu sprechen.
Bartholomew Kettle ist seit Jahren auf der Suche nach seiner kleinen Schwester Hettie, die durch ein Portal ins Alte Land entführt wurde. Als er Pikey begegnet, scheint er endlich einen Weg gefunden zu haben, um Hettie zu retten.


Die Wedernoch steigt unbestimmte Zeit, mindestens aber ein paar Jahre, nach dem Finale von Die Seltsamen ein, beginnt aber nicht minder spannend. Wir begleiten Pikey bei seinem täglichen Kampf ums Überleben und Hettie auf ihren Irrwegen durchs Alte Land. Bartholomew und Jelliby tauchen anfangs noch nicht auf, doch dieser Perspektivwechsel birgt einen gewissen Reiz. War Hettie in Die Seltsamen noch eine Nebenfigur (wenn auch eine wichtige), so lernt man sie jetzt erst richtig kennen. Ein kleines Mädchen, verloren in einer fremden Welt, von den Feen verhöhnt und behandelt wie eine Puppe – und doch entwickelt sie eine große innere Stärke, die sie sehr liebenswert macht.
Mit Pikey Thomas wird ein ganz neuer Charakter eingeführt. Ein einäugiger Londoner Straßenjunge, ständig auf der Flucht, ständig hungrig. Dass er eine Schlüsselfigur sein würde, ist von Anfang an klar, aber trotzdem habe ich ihn nicht so lieb gewonnen wie Hettie oder gar Bartholomew und Jelliby aus dem ersten Teil.

Genau hier liegt der Knackpunkt. Zumindest Bartholomew taucht zwar wieder auf, hat sich in den Jahren der Suche nach seiner Schwester aber sehr verändert. Man könnte sagen, dass er erwachsener geworden ist, aber das nimmt seinem Charakter etwas den Reiz. Ein verlorener Junge in einer Fantasywelt ist einfach viel liebenswürdiger als ein abgeklärter Teenager. Und der sympathische Mr. Jelliby, dessen Herz aus Gold ihn so besonders gemacht hat, bekommt jetzt sogar nur eine kleine Nebenrolle. Meine anfängliche Begeisterung über den Perspektivwechsel wandelte sich schleichend zu leiser Enttäuschung, die sympathischen, liebgewonnenen Figuren aus Die Seltsamen nicht wiederzusehen. Das hat mir im Lauf der Kapitel irgendwie die Lesefreude getrübt.
Stefan Bachmann hat aber natürlich das Schreiben nicht verlernt, sein Stil ist noch immer wunderbar bildhaft und reich an fantasievollen Beschreibungen. So macht er Die Wedernoch trotzdem zu einem wunderschönen, lesenswerten Märchen für Jung und Alt. Als außergewöhnlich junger Autor hat er sich seine eigene Messlatte mit seinem Erstlingswerk wirklich enorm hoch gelegt, sodass eine Fortsetzung die Erwartungen wahrscheinlich kaum erfüllen konnte.

Die Wedernoch kommt zwar nicht ganz an Die Seltsamen heran, ist aber dennoch wieder ein gelungenes Steampunk-Märchen voller Charme und sehr empfehlenswert.

:buch: :buch: :buch: :buch: :buch2:

Stefan Bachmann – Die Wedernoch
Diogenes Verlag, 2014
407 Seiten
16,90€ http://www.diogenes.ch/leser/katalog/nac…3257069068/buch
Ebook: 14,99€ http://www.diogenes.ch/leser/katalog/ebo…257604306/ebook
http://www.stefanbachmann.com/home.php

(2378)