Eine Welt voller Dornröschen

sleeping beauties

Das Grauen beginnt an einem völlig unspektakulären Ort, in Dooling, West Virginia, in den Appalachen. Viel gibt es hier nicht, ein Einkaufszentrum, eine Apotheke, viel Armut und Kampf ums Überleben, ein Frauengefängnis. Dann taucht diese Frau auf: Evie, Spinnweben glitzern in ihren Fußspuren, Motten umschwärmen ihren Kopf, wunderschön, selbst wenn sie blutüberströmt am Straßenrand steht. Sie geht schnurstracks auf eine Christal Meth-Küche zu, tötet dort die Männer, hinterlässt ein blutiges Schlachtfeld und eine desorientierte Frau. Sheriff Lila Norcross und ihr Mann, der Gefängnispsychiater Clinton Norcross, kommen ins Spiel. Zeitgleich erfährt man aus den Nachrichten, dass überall in der Welt Frauen einschlafen und sofort darauf am ganzen Körper in eine Art spinnwebartigen Kokon eingehüllt sind. Versucht man sie zu wecken oder diesen Kokon zu zerstören, wachen sie auf und werden zu wilden, brutalen Furien, zu blutrünstigen Bestien. Aurora, so nennt man sehr bald diese rasch um sich greifende, mysteriöse Schlaf-Epidemie.

Die Bewohner des Städtchens bekommen allmählich mit, wie es um die Mädchen und Frauen steht: Nur nicht einschlafen ist das allerwichtigste! Ehemänner sorgen sich um ihre Frauen, Väter um ihre Töchter. Es wird Kaffee in rauen Mengen gekocht, Aufputschmittel gekauft, Supermärkte und Drogerien geplündert. Die Mädchen und Frauen dürfen um keinen Preis einschlafen! Doch eine nach der anderen schläft ein. Was machen die Männer? Deren Welt gerät aus den Fugen, sie sind durcheinander, wütend, traurig, sie wissen nicht weiter. Sie sind entweder lethargisch oder aggressiv. Das äußert sich – weltweit – in Anarchie. Es gibt Bandenkriege, Plünderungen, Brandschatzung, Auslöschung von ganzen Städten. Es geht so weit, dass sie denken wie im Mittelalter: Das kann nur Teufelswerk sein und muss verbrannt werden. Die einen beginnen die Kokons abzufackeln, die anderen versuchen diese in Verstecken unterzubringen. Denn vielleicht wachen die Mädchen und Frauen ja wieder auf!
Doch was passiert diesen schlafenden, immer noch atmenden weiblichen Gestalten eigentlich währenddessen? So etwa in der Mitte des Romans tut sich eine Parallelwelt auf. Hier leben die Frauen eigentlich glücklicher ohne ihre Männer als mit. Aber kann das gut gehen? Es gibt doch keine Zukunft, wenn Männer und Frauen jeweils für sich alleine sind?

In manchen Reviews wird der Titel moniert. Es sei doch wirklich nicht jede dieser Frauen eine schlafende Schönheit. „Sleeping Beauty“ ist aber einfach nur der englische Ausdruck für Dornröschen. Und genau darum geht es. Dieser dicke Wälzer ist ein epochales Märchen um schlafende Frauen, ob und wie sie wieder wach werden, und wie eine Welt wäre, in der es keine Frauen gäbe.

Stephen Kings Bücher sind nicht nur Romane, Fantasie-Geschichten, Horror. King ist ein großer Chronist des amerikanischen Alltags. Dafür wurde ihm 2014 von Barack Obama die „National Medal of Arts“ verliehen. Stephen King und sein Sohn Owen, der für seine Kurzgeschichten mehrfach ausgezeichnet wurde, schrieben erstmals zusammen an einem Roman.

Ich lese in der Regel jeden Roman, den Stephen King herausgebracht hat und weiß auch von seiner Leidenschaft zu fabulieren oder vom Ausstatten mit Personen und deren Ausschmückung. Dieses Mal war mir das fast ein bisschen zu viel. Die ganze Geschichte um 300 oder 400 Seiten gestrafft hätte meines Erachtens auch gereicht. Das ist das einzige Manko an dem Buch mit seiner märchenhaften Story.

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Stephen und Owen King: Sleeping Beauties
Heyne Verlag, 13. November 2017
960 Seiten
Gebundenes Buch: 28 Euro
eBook 19,99 Euro

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