Mit Volldampf in die Zukunft

In einer kleinen Hütte gelingt es dem jungen Tüftler Dick Simnel (dem aufmerksamen Leser klingt der Name Simnel vielleicht aus Alles Sense in den Ohren), den Dampf zu zähmen und in einer wunderbaren neuen Erfindung für die Bevölkerung nutzbar zu machen. Er entwickelt eine Maschine, die nur mit Wasser und Kohle auf Schienen fahren und Personen und Güter transportieren kann. Lord Vetinari, der Patrizier von Ankh-Morpork, riecht den Nutzen dieser bahnbrechenden Erfindung und stellt seinen Lieblingshalunken Feucht von Lipwig in den Dienst dieser wunderbaren neuen „Eisenbahn“.
Doch nicht jeder Bewohner der Scheibenwelt ist so zukunftsbegeistert. Während in Ankh-Morpork das Eisenbahnfieber ausbricht, brütet in den dunklen Höhlen des Schmalzberges eine Gruppe von Fanatikern über Plänen, die Zwerge wieder „zwergisch“ zu machen – zur Not mit Gewalt. Und Fortschritte wie Klackertürme oder Eisenbahnen passen nicht in ihr Konzept.


Terry Pratchetts aktuelles Buch erschien auf Deutsch nur ein halbes Jahr, bevor der Autor TOD die Hand reichte und über die Schwelle schritt. Toller Dampf voraus steigt eine Weile nach dem Scheibenwelt-bewegenden Ereignis des Koomtal-Abkommens ein, jenem denkwürdigen Tag, als Zwerge und Trolle endlich Frieden schlossen. Dieser Frieden ist im Schmelztiegel Ankh-Morpork längst angekommen, doch in den Schmalzmienen von Überwald ist er mehr als brüchig. Engstirnige und Ewiggestrige können nicht damit leben, dass sich die Welt verändert, und versuchen mit Gewalt, dem Rest der Gesellschaft ihre religiösen und weltlichen Überzeugungen aufzuzwingen. Klingt irgendwie vertraut? Die Scheibenwelt ist nicht umsonst ein Spiegelbild unserer eigenen Welt. Hier prallen rückschrittliche Fanatiker auf den unaufhaltbaren technischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der mit Dampfgeschwindigkeit über die Scheibenwelt rauscht – und das sorgt für viel Zündstoff.
Pratchett beschreibt wie immer mit einem Augenzwinkern, aber doch viel Ernst die Welt, die wir eigentlich alle kennen. Er zeigt Probleme und Hindernisse der Moderne auf, verliert aber nie die altbekannte und nötige Portion Humor. Wie die meisten Ankh-Morpork-Romane ist auch Toller Dampf voraus ein wenig ernster als zum Beispiel die Hexen-Reihe – er hält uns einen Spiegel vor die Nase, kritisiert die Entwicklung von Städten genauso wie die Scheu vor neuen Erfindungen und die Rückschrittlichkeit von Fanatikern – Themen, die vor 150 Jahren im Dampfzeitalter genauso relevant waren, wie sie heute noch immer sind.
Natürlich steckt aber trotz aller realen Kritik – typisch Scheibenwelt – ein bisschen Magie in allem, und altbekannte Gesichter wie Feucht, Mumm, Vetinari und sogar Sekretär Drumknott haben großartige, lustige, spannende Momente, sodass Toller Dampf voraus ein echtes Lesevergnügen ist.
Mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Goblins steigt Pratchett weiter in einen Handlungsstrang ein, der nun leider unvollendet bleiben wird. Mich hätte sehr interessiert, wie es mit diesen gewitzten, streng riechenden Kerlchen weitergegangen wäre. Dadurch schwingt beim Lesen ganz unvermeidlich eine große Portion Melancholie mit, da Toller Dampf voraus nun eines der letzten Bücher sein wird, die wir von diesem einzigartigen Menschen in seiner über 30 Jahre langen Karriere zu lesen bekommen haben.
Ich gebe hier ganz bewusst keine weitere Wertung ab, sondern sage nur: Terry Pratchett muss man lesen.

 

Terry Pratchett – Toller Dampf voraus
Manhattan Verlag, 2014
448 Seiten
17,99€
eBook: 13,99€

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