Too Much Future

Tim MohrWährend für die Punks im Westen das berühmte „No Future“ der maßgebende Schlachtruf war, weil sie durch die vorherrschende Massenarbeitslosigkeit und den Ausbildungsplatzmangel sowie einen drohenden Atomkrieg keine Perspektive sahen, hieß es für die Punks im Osten in der damaligen DDR dagegen „Too Much Future“, weil das gesamte Leben durch die verschiedenen Staatsorgane bereits vorausgeplant war. Freie Entfaltung und Selbstbestimmung waren kaum möglich. Die Unzufriedenheit und der Frust der Jugendlichen war ein idealer Nährboden für die Saat des Punk, die schließlich das verhasste DDR-Regime zu Fall bringen sollte.
In weitestmöglich chronologischer Reihenfolge berichtet Tim Mohr in Stirb nicht im Warteraum der Zukunft, wie es dazu kam. Durch Schicksale von Einzelpersonen und vielen großen und kleinen Ereignissen wird dieser wenig beachtete Teil der deutschen Geschichte lebendig. Er reicht von den Anfängen der Punkzeit bis in die 2000er Jahre hinein, weil Ostpunks nach dem Fall der Mauer das Gesicht Berlins und dessen Clublandschaft nachhaltig prägen. Das Berghain ist bis heute einer der berühmtesten Clubs weltweit.

Jungpioniere, Thälmann-Pioniere, FDJ, Ausbildung, NVA, Arbeit in der Planwirtschaft. Von Geburt an war das Leben vorbestimmt. Alternativen waren dazu nicht vorgesehen. Man kann sehr gut nachvollziehen, warum Punk auf viele ostdeutsche Jugendlichen so attraktiv wirkte. Denn dies war der Sound der Rebellion und der Freiheit, die vielen im Osten fehlte. Planlos war daher der Name einer der ersten Punkbands. Als Punk musste man einfallsreich sein. Aus Kronkorken und Knöpfen wurden Buttons gebastelt, und die Haare zum Beispiel mit Rasierschaum oder Latexfarbe hochgestylt. Diese pragmatische DIY (Do It Yourself) Haltung wurde ein wichtiger Bestandteil der Punk-Szene. Zur Not wurden politische Slogans wie „Macht kaputt was euch kaputt macht“ einfach auf Papier geschrieben und mit Sicherheitsnadeln an der Jacke befestigt. Allein durch ihr Äußeres grenzten sich die Punks so gegen Staat und Gesellschaft ab. Das machte sie aber auch automatisch zur auffälligen Zielscheibe zunächst von der Polizei und dann auch von der gefürchteten Stasi. Der Staat reagierte geradezu panisch auf ein paar Jugendliche, die etwas seltsam herumliefen und harte laute Musik hörten. Schikanen, Prügelattacken und willkürliche Verhaftungen, sogar mehrmals am Tag, waren an der Tagesordnung. Vielleicht wäre Punk eine unbedeutende Untergrund-Jugendkultur geblieben, hätte man ihr keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, aber es sollte anders kommen.

Um ein Exempel zu statuieren, wurde Major, die erste Punkerin der DDR, deren Wohnung gleichzeitig ein wichtiger Treffpunkt in Berlin war, 1981 in einem Scheinprozess zu einem Jahr Freiheitsstrafe und fünfjährigem Berlinverbot verurteilt. Weitere Verurteilungen sollten folgen. Was abschrecken sollte, bewirkte das Gegenteil. Viele Jugendliche, die vorher einfach nur unzufrieden waren, wurden nun zu bekennenden Gegnern des Staates. Nachdem öffentliche Treffpunkte wie der Plänterwald und der Alexanderplatz im Laufe der Zeit für Punks verboten wurden, wichen diese auf die Offene Arbeit verschiedener Kirchen aus, wo die Punks eigene Räumlichkeiten bekamen. Die Kirchen besaßen eine gewisse Unabhängigkeit, sodass die Punks hier vor staatlichem Zugriff geschützt waren. „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft“ war einer der Slogans die dort an die Wände gesprüht wurden. Also nicht tatenlos rumsitzen, sondern aktiv werden und die Verhältnisse verändern. Do It Yourself. Punk. Auf diese Weise wurden trotz aller Gefahren auch verbotene Konzerte organisiert, denn natürlich hatten Punkbands wie Planlos und Namenlos aus Ost-Berlin oder Wutanfall aus Leipzig keine staatliche Lizenz und hätten diese wegen der radikalen Texte auch nie bekommen. Schleim-Keim aus Erfurt gelingt sogar das Unmögliche: Illegale Tonaufnahmen werden in den Westen geschmuggelt und dort auf LP veröffentlicht. Leider war die Person, die das angeleiert hatte, gleichzeitig ein IM, also ein Stasispitzel. Am 30.04.1983 fand in der Christuskirche das erste große Punkfestival der DDR statt mit mehreren hundert Teilnehmern aus dem ganzen Land. Die Gegenmaßnahmen der Polizei waren zu schwach, weil sie mit diesem Ansturm nicht gerechnet hatte. Am 22.10.1983 sollte das zweite Festival in der Christuskirche stattfinden, doch diesmal war die Staatsmacht vorbereitet. Die Punks wurden schon an ihren Heimatort an der Anreise gehindert und unterwegs aus den Zügen geholt, und wer bis nach Halle kam, wurde vor Ort zusammengeknüppelt und verhaftet. Lediglich 150 blutüberströmte Punks schafften es letztendlich in die Christuskirche. Dennoch war die Aktion kein Erfolg, sondern führte zu einem Bumerang-Effekt. Viele normale Jugendliche, die die sinnlose Polizeigewalt erlebt hatten, nur wegen einem bisschen Musik, waren davon angewidert und wurden in der Folge zu Punks. Überall im Land entstanden neue Bands.

Eine davon ist Feeling B, (deren Mitglieder Paul Landers und Flake Lorenz später mit Rammstein für Furore sorgen werden), die einen neuen Weg einschlug. Sie liessen sich staatlich zulassen, und als Berufsmusiker brachten sie, wenn auch mit etwas gemäßigten Texten, den Punk doch in alle Winkel der DDR. Ihrem Beispiel sollten viele Bands folgen, die heute als „die anderen Bands“ bezeichnet werden. Ihre Unzufriedenheit drückten sie zwischen den Zeilen aus, dennoch kam die Botschaft am. Aber auch illegale Bands machten gegen alle Widerstände weiter. Otze von Schleim-Keim prägte im Song „Prügelknaben“ die Textzeile: „Wir sind das Volk, wir sind die Macht!“ Diesen Song spielten sie auch auch beim kirchlichen Jugend 86 Festival im thüringischen Rudolfstadt, das von über tausend Jugendlichen besucht wurde. Die Polizei war nicht nur überfordert, sie zeigte sogar Angst. Zur Gegenveranstaltung Kirche von unten zum offiziellen Kirchentag 1987 kamen 6000 Menschen, das Land war in Bewegung. Beim Frühlingsfest der Berliner Erlöserkirche am 23.04.1988 fand mit zehn Stunden Länge das bis dato größte Punkfestival statt. Es spielten sogar Bands aus Polen und Ungarn, und unter den tausenden Besucher reisten viele auch aus dem Westen an. Die Stasi war zwar vor Ort, unternahm jedoch nichts. Es roch nach Sieg. Die Kirche von unten liess daraufhin die Wahlen vom 07. Mai 1989 beobachten und konnte staatlichen Wahlbetrug nachweisen. Am 07. Juli fand die erste Demonstration gegen den Wahlbetrug statt. Die Aktion weitete sich aus und führte in der Folge schließlich unter anderem auch zu den berühmten Montagsdemonstrationen in Leipzig, die von der Nikolaikirche ausgingen. Siegbert Scheffke, der bereits seit 1986 über Kontakte Interviews und Aufnahmen mit Punkbands in den Westen schmuggelte und dort im Radio platzierte, gelang es, einen Beitrag der Leipziger Montagsdemonstration vom 09.10.1989 in den Westen zu übermitteln, der dort tags darauf in den Nachrichten lief und so auch in großen Teilen der DDR gesehen wurde. Otzes Punk-Parole „Wir sind das Volk“ war nun in aller Munde. Nur einen Monat später fiel die Mauer. Die neuen Freiräume nutzten die Ost-Punks, um Häuser zu besetzen, wie sie es schon zu DDR-Zeiten gemacht hatten und eröffneten illegale Clubs. Von hier aus wird die Technobewegung um die Welt ziehen, die ursprünglich alles andere als kommerziell und stark vom Do It Yourself Punkgedanken geprägt war. Auch hier läßt sich die Entwicklung sehr gut nachvollziehen, die schließlich im weltberühmten Club Berghain mündet.

Fazit: Stirb nicht im Warteraum der Zukunft basiert auf zahlreichen Interviews, Stasi-Akten und Ereignissen, deren Einzelfälle Tim Mohr miteinander zu einer wahnsinnig spannenden Geschichte verstrickt, die das harte Leben der Punks in der ehemaligen DDR eindringlich schildert. Der Staatsapparat versucht, sie mit allen Mitteln zu unterdrücken, und sie werden von Polizei und Stasi extrem drangsaliert. Und dennoch wehren sich die Punks mit aller Konsequenz und schaffen sich Freiräume, mit denen sie am Fundament der DDR rütteln. Der Umbruch, der Fall der Mauer, ist das erklärte Ziel, das tatsächlich erreicht wird. „Macht kaputt was euch kaputt macht“, nie war dieses Schlagwort von Ton Steine Scherben zutreffender als hier. Auch im Nachhinein ist es hochgradig spannend, den Ereignissen 1989 kurz vor dem Mauerfall zu folgen.
Inwieweit der Mauerfall tatsächlich quasi allein auf die ostdeutschen Punks zurückzuführen ist, wie Tim Mohr es in Stirb nicht im Warteraum der Zukunft darlegt, vermag ich nicht zu beurteilen, aber eins ist klar: Sie waren auf jeden Fall nicht unerheblich daran beteiligt.

Lesen! Selten ist Geschichtsunterricht so spannend!

plus Bonuspunk  :mosch:

Tim Mohr – Stirb nicht im Warteraum der Zukunft
ISBN: 978-3-453-27127-2
Verlag: Heyne Hardcore, VÖ: 20.03.2017
Gebundene Ausgabe, 560 Seiten
19,99 €, eBook 15,99 €, erhältlich über buecher.de/shop/berlin/stirb-n…/detail/prod_id/47029269/
Homepage: randomhouse.de/Buch/Stirb-nich…eyne-Hardcore/e517202.rhd

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