Der allsehende Pizzabote

Der perfekte Überwachungsstaat hat 36 Mitgliedsstaaten und ist zur Festung ausgebaut, wehrhaft sowohl gegen Feinde von außen als auch von innen: Die Europäische Union der nahen Zukunft besteht in Tom Hillenbrands Roman Drohnenland aus einer Vielzahl großer Brüder, die den Verbrauchern – pardon: Bürgern – permanent über die Schulter schauen. Datenbrillen sind allgegenwärtig, jeder ist vernetzt. Drohnen in allen Farben, Formen und Größen sind überall und vielseitig einsetzbar: Die einen zeichnen alles auf, was sie sehen, die anderen liefern Fast-Food, und wieder andere sind beinahe lautlose Tötungsmaschinen. Mit Letzteren bekommt es Vittorio Pazzi zu tun, Mitglied des Europäischen Parlaments, der an einem abgelegenen Fleckchen Erde nahe Brüssel, das kaum von Überwachungsdrohnen überflogen wird, durch einem Kopfschuss ermordet aufgefunden wird. Europol-Hauptkommissar Aart van der Westerhuizen und seine Analystin Ava Bittmann werden mit der Aufklärung des Mordfalls betraut – theoretisch ein Kinderspiel, die Aufklärungsrate in der EU liegt bei etwa 16 Stunden. Zu verdanken hat man das dem Polizeianalyserechner Terry – kurz für TEREISIAS, ehemals der Name eines blinden Sehers der Antike –, der eine begehbare Simulation des Tatorts, eine Spiegelung, in die auf Wunsch alle Daten eingeblendet werden können, von der Schuhgröße des Opfers bis hin zur Flugbahn des Geschosses, erstellen kann sowie Zugriff auf fast alle Daten, die die Drohnen sammeln, hat. Das Ermittlerduo geht einer Reihe von Spuren nach, die zunächst alle im Nichts enden. Hat der Mord etwas mit dem angekündigten Austritt Großbritanniens aus der EU zu tun? Deswegen muss eine komplett neue Verfassung verabschiedet werden, da die geltende den Austritt eines Mitgliedsstaates nicht vorsieht. Und in diesem Zusammenhang kann unter der Hand die eine oder andere Regelung gleich miteingeführt werden, die nicht jedem gefallen dürfte. Oder steckt der Waffenlieferant Tallan Consolidated dahinter, der mit allen Mitteln verhindern will, dass schmutzige Geschäfte aus dem Solarkrieg, in dem auch Westerhuizen in der Sahara gegen Tuareg-Freischärler um Solaranlagen kämpfte, ans Tageslicht kommen? Erst als der Journalist Johnny Random Westerhuizen einen Tipp gibt, kommt Bewegung in die Ermittlungen, nicht nur, was den Täter betrifft, sondern auch, was Johnny Random selbst angeht: Der Journalist, dessen wahre Identität niemand kennt, hat es geschafft, sich in den Mirrorspace einzuhacken, das hochgesicherte Live-Spiegelprogramm des Europäischen Geheimdienstes Récupération des Renseignements (übersetzt in etwa: Wiederherstellung der Informationen, abgekürzt RR). Der Mirrorspace bildet mit einem ganzen Arsenal aus Drohnen die Umgebung realitätsgetreu ab, sodass Geheimdienstagenten als Ghosts unsichtbar für die Normalsterblichen jederzeit alles und jeden bespitzeln können. Westerhuizen bekommt Zugang zu diesem Programm, um den Mord aufklären zu können, was dem RR nicht schmeckt. Als der Hauptkommissar und seine Analystin, mit der er, entgegen der geltenden Konvention, nicht ins Bett geht – zumindest nicht im ersten Drittel des Romans – dahinterkommen, dass im großen Stil Daten verschiedener Tatorte manipuliert wurden, geraten sie nicht nur in die Schusslinie des Geheimdienstes, sondern auch einer Dritten Fraktion, die über beinahe ebenso viel Macht verfügt.

Die Kriminalhandlung in Drohnenland ist so konventionell wie solide, angemessen (un-)vorhersehbar in ihren Wendungen und wird befriedigend aufgelöst, wie eigentlich nicht anders zu erwarten von Autor Tom Hillenbrand, der bereits mit kulinarischen Krimis auf sich aufmerksam machte. Die Stärke Drohnenlands liegt vor allem im Hintergrund, in dem Hillenbrand erschreckend detailreich eine Zukunft zeichnet, die man sich zwar vorstellen kann, aber eigentlich nicht vorstellen möchte: Das politische Antlitz der Erde hat sich radikal geändert, Portugal ist dank seiner Gezeitenkraftwerke das reichste EU-Land. Die USA sind nur noch eine Randnotiz, gerade einmal ein Halbsatz wird den Staaten gewidmet. Südamerika ist auf dem aufsteigenden Ast, Brasilien eine Supermacht. Der Ferne Osten ist mehr oder weniger komplett mit sich selbst beschäftigt und zerfleischt sich in Energie-Kriegen. Aufgrund der globalen Erwärmung sind die Küstenlinien verschoben, die Niederlande im Meer versunken, Brüssel geht im sommerlichen Dauerregen unter.
Die prominenteste Rolle kommt dabei jedoch der Technik zu: Neben lustigen Gadgets wie einem selbstfahrenden Mercedes namens Gottlieb sind es vor allem die allgegenwärtigen Drohnen, teilweise so groß wie Kälber, manche nicht größer als Ameisen, die aufhorchen lassen. Sie liefern Pizza ins Europol-Hauptquartier, halten die Geschehnisse auf den Straßen fest, können Gesichter erkennen, Bewegungsmuster identifizieren, Standorte melden. Die Blogger der Zukunft – Drogger – nutzen sie für spontane Interviews, Horden von Papparazzi sind passé. Alles wird jederzeit aufgezeichnet – und abgesehen von ein paar Anarchisten, die in der halb versunkenen Hamburger Hafencity hausen und gerne mal als Sündenböcke missbraucht werden, haben sich alle damit abgefunden: »Wer achtet schon auf Drohnen, Aart?« (S.62). Dabei verzichtet Hillenbrand großzügig auf Erklärungen jeder Art, was Ghosts, Colibris, Specs, Mites, Hobo-, Molly-, Panoptos- und Assassinendrohnen, Molekularscans oder Creeperfeeds angeht, doch jedem, der in den letzten Jahren online war und mit einem Auge auf technische Neuerungen wie die Google-Datenbrille geschielt hat, fällt es nicht schwer, schnell hinter das Technobabbel zu kommen.
So viele gesammelte Daten können unmöglich von Menschen ausgewertet werden, deswegen haben die Behörden große Analyserechner, die alles speichern und für den Ermittler aufbereiten. Was passiert, wenn diese Rechner und Programme kompromittiert werden, ist eines der zentralen Themen des Buches: Der Computer erzeugt ein begehbares, dreidimensionales Abbild des Tatortes, eine Spieglung, in dem sich die Ermittlungsbeamten bewegen, anstatt zu dem im Dauerregen eher ungemütlichen Ort in der realen Welt zu fahren. Sie verlassen sich blind auf die Maschine, und der Gedanke, dass jemand die Daten manipuliert haben könnte, erscheint so abwegig, dass die Protagonisten lange brauchen, um ihn überhaupt ernsthaft in Betracht zu ziehen. Doch natürlich findet jeder denkbare Missbrauch dieser allumfassenden Technik auch statt. Dass die Ermittler so lange brauchen, um die Daten ihres Computers in Zweifel zu ziehen, als die tatsächlichen Indizien immer verworrener werden und nicht mehr zur Computerhypothese passen, ist erschreckend. Und die Konsequenzen daraus, der Tod eines Anarchisten in Hamburg bei einem bizarren Unfall während der Verhaftung, werden lange von Westerhuizen zu ähnlich unangenehmen Erinnerungen an seine Zeit beim Militär in die hinterste Ecke seines Gehirns geschoben und vorerst nicht weiter beachtet.
Die Überwachung geht jedoch noch wesentlich weiter, vor allem die Prädiktion treibt beim Lesen die Paranoia auf die Spitze: Wenn man ausreichend viele Daten über einen Menschen gesammelt hat, kann man ganz ohne Kristallkugel ziemlich genau vorhersagen, was er demnächst tun wird. Wie soll die Polizei also mit jemandem umgehen, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 % in den nächsten zwei Jahren einen Mord begehen wird? Präventiv wegsperren? Diese letzte Grenze hat die EU offiziell noch nicht überschritten. Im Krieg in der Sahara allerdings sah es anders aus: Unschuldige Jugendliche mit ungünstiger Prognose hinsichtlich ihrer potenziellen Karriere bei den Tuareg-Terroristen wurden verhaftet und verschwanden auf Nimmerwiedersehen in namenlosen Gefängnissen.
Dabei fällt auf, dass es hier immer noch die Menschen sind, die an den Knöpfen sitzen: keine künstlichen Intelligenzen, keine Singularität. Computer sind in Drohnenland, wie Ava Bittmann so schön erklärt, lediglich Golems, die einfach nur Befehle ausführen. Avas Job ist es, dem Computer die richtigen Fragen zu stellen, kreativ zu sein, ihrer Intuition zu vertrauen. Und damit wird der einzige Funken Hoffnung im Roman gezündet: Noch immer sind wir die Herren über die Maschinen. Was jeden Datenmissbrauch umso deutlicher in den Vordergrund rückt und umso gravierender macht.

Hillenbrand strickt uns ein Zukunftsbild, das gut und gerne so Wirklichkeit werden könnte. Drohnenland punktet bei der Ausstattung, weniger bei der Story. »Der Verstand ist oft die Quelle der Barbarei; ein Übermaß an Verstand ist es immer« – dieser Satz Giacomo Leopardis ist dem Roman vorangestellt. Hier treffen die Worte eines italienischen Philologen des 19. Jahrhunderts auf eine potenzielle Realität Mitte des 21. Jahrhunderts. Dass es aus dem Überwachungsstaat keinen Ausweg gibt, wird einfach akzeptiert. Dorthin kann uns die Angst vor dem Terror bringen; das könnte der Preis sein, den wir – ganz vernünftig natürlich – zu zahlen bereit sein werden. Hoffentlich kommt es nie so weit.

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