Die Mutter eines Genres

Die Prostituierte Sybil Gerard gerät an einen Freier, der ihre persönliche Vergangenheit nutzt, um sie in eine politische Verschwörung einzuspannen.
Der Wissenschaftler Edward Mallory, der durch die Entdeckung des Skeletts eines Brontosaurus einigen Ruhm erlangt hat, sieht sich bedroht durch Kollegen, die seinen guten Ruf in den Schmutz ziehen wollen.
Der Journalist Laurence Oliphant versteht mehr von all diesen Verstrickungen, als es den Anschein hat.
In einer Welt, die von einem allwissenden Auge beherrscht wird, kreuzen sich diese drei Schicksale.


In fünf kürzeren, in sich abgeschlossenen „Iterationen“ werden die Geschichten dieser drei Hauptpersonen skizziert, doch den großen Zusammenhang erkennt der Leser erst am Ende. Das macht Die Differenzmaschine anfangs eher schwer zu lesen, weil man den roten Faden eine Weile suchen muss, doch wenn man sich darauf einlässt, kann man sich vom Erzählstil mittragen lassen.
Die Atmosphäre, die die Autoren hier erzeugen, ist so steampunkig wie man es in moderner Literatur sonst nur selten findet. Jedes Detail wirkt durchdacht und unheimlich organisch in die Welt eingefügt, sodass man sich tatsächlich manchmal fragt, was davon in England im Jahr 1855 existiert haben könnte. Die Grenzen zwischen tatsächlicher Industrialisierung und Fiktion werden gekonnt verwischt, das erzeugt ein ganz besonderes Lesegefühl. Die einzelnen Geschichten sind so langsam und detailliert erzählt, dass sie sich perfekt in den Erzählstil viktorianischer Autoren einfügen. Das allein macht das Lesen dieses Buches zu einer echten Freude.
In einer Welt, die einer rasanten Modernisierung beinahe zum Opfer fällt, geraten einzelne Schicksale unter die Räder der großen, sich stetig weiterdrehenden Maschine. Ein absurder Beamtenapparat bestimmt die Geschicke der kleinen Leute, und Wissen und Information stehen über allem. Wissenschaftler profitieren natürlich von dieser Entwicklung, doch auch sie sind am Ende nur Spielbälle der politischen Mächte. Natürlich wäre ein solches Szenario in unserer postindustrialisierten Gesellschaft vollkommen unmöglich . . .

Die Differenzmaschine ist kein Buch, das man mal eben so nebenbei lesen kann. Man muss sich wirklich konzentrieren, denn die Geschichte steckt voll versteckter Bedeutung und ist für sich genommen nicht besonders aufregend. Viele kleine Details nimmt man kaum wahr, doch plötzlich gewinnen sie an Relevanz, sodass man genau aufpassen muss, um den roten Faden nicht zu verlieren. Die Differenzmaschine lebt von Andeutungen, dem großartigen Stil und der herrlich steampunkigen Atmosphäre, ist aber kein einfaches Buch. Trotzdem ist es quasi die Mutter des modernen Steampunks und daher für Genre-Fans oder interessierte Einsteiger ein absolutes Muss, um die Welt des Dampfes besser kennenzulernen.

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William Gibson & Bruce Sterling – Die Differenzmaschine
Heyne Verlag, 2012
622 Seiten, Taschenbuch
9,99 €
eBook: 8,99€

Heyne
Die Zukunft
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