Zwischen Kälte und Zerbrechlichkeit

MP_D1-2Agent Side Grinder waren in den letzten Jahren alles andere als untätig. Ein Absolute-Body-Control-Cover („Love at first sight“), eine Kollaboration mit Kill Shelter („The necklace“), Emanuels Gastvocals auf „Purebloods“ von Emmon, Festivalauftritte (als die wieder möglich waren), eine Tour durch Skandinavien … Parallel haben sie ihr sechstes Album Jack Vegas fertiggestellt, das vor gut einem Monat beim Göteborger Label Progress Productions von Torny Gottberg erschienen ist. Johan Lange, Peter Fristedt und Emanuel Åström richten hierauf den Blick nach Amerika, früher wie heute Sehnsuchtsort vieler Menschen, lassen sich von der Beatnik-Kultur inspirieren und wie diese übertragen auf Schweden aussehen würde. Gleichzeitig stehen die großen Krisen der Gegenwart im Fokus, Kriege, Pandemien, Unsicherheiten und die Düsternis, die allem innewohnt. Ein ambitioniertes thematisches Konzept, das perfekt zu den zwischen allen düstermusikalischen Stühlen sitzenden ASG passt. Ich bin gespannt!

Schon beim ersten Track „Waiting room“ – als Vorabsingle bereits seit einigen Monaten bekannt und auch live erfolgreich erprobt – wird klar, dass ASG soundtechnisch wieder ein Stück zurück zu den rohen, ungestümen Wurzeln der ersten zwei Alben gehen. Gleichzeitig wird die fiebrige, oft unwirkliche Atmosphäre der Beatnik-Zeit hier perfekt umgesetzt, nicht zuletzt durch den Schauplatz des dazugehörigen Videos, das im Säter mentalsjukhus gedreht wurde, einer ehemaligen Nervenheilanstalt, die heute ein Lost place ist. „Waiting room“ reißt vom ersten Ton an mit, baut sich immer drängender auf, „yeah we better act fast, the patient is about to pass“, ist man der Patient, der kurz davor ist, den Verstand und vielleicht auch das Leben zu verlieren? Oder ist man einer der Ärzte, die schnell handeln müssen? „Always on the brink of chaos“, immer kurz vor einem Ausbruch – das lässt sich auf vieles übertragen und charakterisiert auch diesen Song, der einem gerade live schier um die Ohren fliegt. Ein großartiger Einstieg in das Album! „Number by number“ ist kontrollierter, führt die gehetzte, atemlose Atmosphäre aber fort. Komprimierter, klaustrophobischer und hypnotisierender – vor allem Emanuels Gesang steht hier im Mittelpunkt, getragen von vielschichtigen Sound- und Geräuschebenen, die einem bei jedem Hören eine neue Facette offenbaren. Kein Instant-Ohrwurm, aber sehr spannend aufgebaut. Die zweite Vorabsingle „Bloodless“ präsentiert sich mit dem eingängigen Eröffnungsrhythmus leichter zugänglich und bekannter, die große Überraschung sind hier Emanuels Vocals, die gerade beim Refrain ungewöhnlich zart und geradezu herzzerreißend sind. ASG verwenden hier ganz neue Melodien und Rhythmen, die teils tieftraurig, teils fast schön fröhlich sind (aber die Art Fröhlichkeit, die einem im Hals steckenbleibt) und zusammen mit dem dystopischen Text – „No sweat, no lust, no sex, no dance/no pain, no fear, no dissonance/We pave the way, we lead the herd/then offering this bloodless world to you“ – einen unwiderstehlichen Sog entwickeln, bis hin zu dem abrupten Ende. Wow!
Auch das nachfolgende „Madeleine“ experimentiert mit für ASG ungewöhnlichen Melodien und entwickelt im Lauf des Songs eine hypnotisch-kalte Atmosphäre, die ein wenig an „Mag 7“ erinnert, ohne die wilden Ausbrüche. Die Emotionen sind natürlich ebenfalls da, aber kontrollierter, brodeln mehr unter der schleppenden Soundoberfläche, dem klaustrophobischen Rhythmus und dem flirrenden Synth gegen Songende. „Flaws and fame“ erinnert mit seinem dissonanten Pling-und-Plupp-Sound ein wenig an die im Albumtitel anklingenden Spielautomaten (Vegas ist ein schwedischer Anbieter von Glücksspielautomaten), an Hoffnung und Enttäuschung, an Zerrissenheit und innere Leere. Das musikalische Spielautomatenthema wird im Titeltrack „Jack Vegas“ fortgeführt, melodischer und noch plastischer. Der mit Abstand längste Song des Albums baut auf einer Synthschleife auf, die von immer neuen Soundschichten überlagert und erweitert wird, und zusammen mit Emanuels Gesang, der hier in den Sound integriert ist und weniger als bei den anderen Songs im Vordergrund steht, verschlingt einen „Jack Vegas“ geradezu und spuckt einen atemlos am Ende wieder aus. Siebeneinhalb intensive Minuten sind im Handumdrehen vorbei. „Decipher“ lässt einen wieder ein wenig Atem schöpfen, aufmerksam zuhören sollte man hier aber natürlich auch. Zuerst noch extrem reduziert – Emanuels Stimme frisst sich über einer simplen Synthmelodie in Ohr und Herz – wächst sich „Decipher“ zu einem düster-melancholischen Monster aus, bei dem Emanuels und Johans Stimmen wunderschön harmonieren und sich der Sound zunehmend verdichtet und einen umhüllt. Und schon wieder ist man atemlos.
Die größte Überraschung des Albums ist der abschließende Song, „The unravelling“. Glockenläuten, Piano, Xylophon, Flöte, Emanuels tragender, schleppender Gesang, alles leicht dissonant und schneidend und trotzdem eine Einheit. Sehr experimentell, sehr ungewöhnlich, sehr gelungen.

Hui. Jack Vegas ist keine ganz leichte Kost. Einerseits gehen ASG ein wenig zurück zu ihren ungestümen Post-Punk-Wurzeln (was sicher auch ein wenig dem früheren Mitglied und jetzigem Albumproduzenten Henrik Sunbring geschuldet ist), andererseits entwickeln sie sich ein ganzes Stück von den catchy Songs der Vorgängerscheibe A/X weiter. Anklänge an alle musikalischen Inkarnationen der letzten Jahre sind vorhanden, gleichzeitig werden mutige neue Wege beschritten. Auf Jack Vegas gibt es Unmengen zu entdecken, mehrere Hördurchgänge sind unbedingt erforderlich. Die Atmosphäre ist vielschichtig, lässt definitiv an amerikanische Beatnik-Autoren denken, aber auch an nordische Düsternis à la Aki Kaurismäki. (Auch wenn der andere Soundtracks für seine Filme wählt.) ASG gehen hier noch viel mehr als bisher aus sich heraus, gleichzeitig sind Musik und Gesang weitestgehend zurückgenommener, in sich gekehrter. Hoffnungsloser und gleichzeitig auch hoffnungsvoller. Dramatischer und gleichzeitig reduzierter. Komplexe Songs, die komplexe Stimmungen transportieren, die es zu entdecken gilt. Dazu passt auch das Albumcover, dessen Collage aus Kritzeleien und Ausschnitten zu eingehender Betrachtung beim Hören verpflichtet.
Agent Side Grinder sitzen weiterhin zwischen allen düstermusikalischen Stühlen, machen es weder sich noch den Hörer*innen leicht, und das ist großartig. Jack Vegas ist jetzt schon ein heißer Kandidat für mein Album des Jahres!

Anspieltipp: Bloodless, Jack Vegas, Decipher

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Agent Side Grinder: Jack Vegas
Progress Productions, 04.05.23
Länge: 38 Minuten
Kaufen: Bandcamp 85 SEK, Progress Productions CD 15 €, LP 29/31 € (schwarzes/rotes Vinyl), Poponaut € 13,45 

Tracks:
1. Waiting room
2. Number by number
3. Bloodless
4. Madeleine
5. Flaws and fame
6. Jack Vegas
7. Decipher
8. The unravelling

(1868)