Dystopie und Himmelreich zugleich

Myopia? „Kurzsichtigkeit“ wirft mir Wikipedia hier aus. In Wirklichkeit waren es aber Schlafprobleme, die Agnes Obel hatte. Wenn man nachts nicht mehr zur Ruhe kommt, kann es schon zu Situationen kommen, in denen man nicht richtig schläft, sondern eher dahindämmert. Wegen Müdigkeit sieht man alles wie durch einen Nebel. Schlaf und Tod sind nicht weit voneinander getrennt. Stimmung: morbide.

Das Album beginnt wieder mit dieser zarten, filigranen Klaviermusik, mit den leichten Fingerübungen, die an einen gemütlichen Sonntagnachmittag denken lassen. Agnes Obel spielt mit ihrer Stimme, Zupfinstrumente kommen hinzu, Männerstimmen bringen Spannung rein, dazu ein Glockenspiel und Trommeln. Die zehn Songs sind wie immer bei Agnes Obel von ihrem Singen dominiert, aber im Hintergrund gibt es zeitweise einen kleinen Chor, Klavierkaskaden, eine sehr klassisch angehauchte Instrumentierung. Dies ist neoklassische Klaviermusik, Kammermusik mit elektronischen Einflüssen, hier sind es Voices, die meist eine düstere und melancholische Stimmung erzeugen, überragend wie immer die Stimme der Hauptperson. Agnes ist eine Sirene, die einen bezirzt, eine nordische Elfe, die einen mit ihrer außergewöhnlichen Stimme gefangen nimmt, eine unheimliche Sängerin, die einen in dystopische Welten entführt – und dann und wann ist sie einfach nur eine klassische Barsängerin mit verflucht guter Stimme („Won’t you call me“).

Myopia ist nach Philharmonics, Aventine und Citizen of Glass (KLICK) das vierte Album der dänischen Sängerin, Songwriterin und Musikerin. Ihre Songs werden oft in unheimlichen Serien eingesetzt (Der Nebel – The Mist, The Rain oder in der deutschen Endzeit-Serie Dark). Obels Musik ist unaufdringlich und doch eindringlich, sie ist mystisch, hypnotisierend. Die klassische Musikausbildung, das Klavierspielen von Kindheit an und ihre künstlerischen Vorbilder haben starken Einfluss auf Agnes Obels Musik, Songs und selbst auf ihre Covergestaltung genommen. Debussy, Ravel und Satie hört man in ihrem Klavier, Poe-esk ist die Stimmung auf ihren Alben, Mapplethorpe und Hitchcock liebt sie für ihre Ausdrucksweise, und das sieht man ihrem Artwork an.

Das alles hätte ich zu gerne im März in der St. Matthäus Kirche in München gesehen und gehört, aber der Corona-Virus hat die Welt in die Knie gezwungen. Zum #stayathome und Entschleunigen eignet sich dieses Album aber hervorragend. Die 40 Minuten Spielzeit sind gerade so viel, dass man auf der Couch oder auf dem Balkon seinen Gedanken nachhängen kann – oder sie gleich noch einmal laufen lässt.

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Agnes Obel: Myopia
Deutsche Grammophon (Universal Music), Vö. 21. Februar 2020
CD 14,99 €, Vinyl 19,99 €, MP3 10,99 €

Tracklist:
1. Camera’s rolling
2. Broken sleep
3. Island of doom
4. Roscian
5. Myopia
6. Drosera
7. Can’t be
8. Parliament of owls
9. Promise keeper
10. Won’t you call me

 

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