Für immer neu

Einstuerzende_Neubauten_Alles_in_Allem_Albumcover1Das 40-jährige Jubiläum hat nun auch die Einstürzenden Neubauten ereilt. Zu diesem ehrwürdigen Anlass gibt es nun endlich auch wieder ein neues Studioalbum, das wieder mit Unterstützung der Neubauten Supporters aufgenommen wurde, die für Unabhängigkeit gegenüber der Musikindustrie sorgen. Einstürzende Neubauten, das war schon immer weit mehr als Musik. Klangforschung und Experimentieren mit allem, was Töne und Geräusche erzeugen kann, das sind von je her die Markenzeichen der Band, die längst zu den weltweit einflussreichsten deutschen Bands gehört. Sänger Blixa Bargeld zählt ebenso zu den Gründungsmitgliedern wie Perkussionist N. U. Unruh, Bassist Alexander Hacke ist ebenfalls seit den Anfangstagen dabei. Gitarrist Jochen Arbeit und Rudolf Moser als zweiter Perkussionist sind 1997 dazu gestoßen. Alles in Allem, mögen die Klänge beginnen.

„Here comes ‚Ten Grand Goldie'“, so kündigt Blixa das neueste Werk zu Beginn an, dessen Songs viel mit Berlin zu tun haben werden. Berlin, zwischen Heimatstadt und Moloch, aus dem die Neubauten viele ihrer Inspirationen beziehen. Einer S-Bahn gleich rumpelt und zischt der Track durch die Stadt, rhythmisch und fordernd, immer wieder kurz innehaltend. Ja, das sind sie unverkennbar, die Einstürzenden Neubauten. Zu dem nächsten Song „Am Landwehrkanal“ schießen mir viele verschiedene Assoziationen in den Kopf, die von Rosa Luxemburg (ihre Ermordung wird thematisiert) über Ton Steine Scherben über Filmmusik bis hin zu American Country und Bluegrass reichen. Der Bezug zu TSS überrascht gar nicht mal so, stammten sie doch auch aus Berlin und waren dort schon sehr bekannt, als sich die Neubauten unter der Autobahnbrücke zusammenfanden. Und von 1971 bis 1975 hatten TSS in einem Haus am Landwehrkanal gelebt. „Wir hatten tausend Ideen, und alle waren gut.“ singt Blixa und klingt dabei ganz nach Rio Reiser.“Mach kaputt was Euch kaputt macht.“ war eine zentrale Idee der Scherben, und so machten die Neubauten die alteingebrachte, etablierte Rockmusik kaputt. Der langgezogene mehrstimmige Gesang im Stück überrascht schon eher, bleibt so etwas sonst doch die Ausnahme. Schließlich ist Blixa „Die“ Stimme bei den Einstürzenden Neubauten. Diese kommt nun in „Möbliertes Lied“ allein zu tragen, das im ersten Moment erstaunlich konventionell wirkt mit Bass und Gitarre. Doch das Keyboard sorgt für eine besondere Atmosphäre, und die abgefahrenen Geräusche nehmen immer mehr zu, bis sie eine regelrechte Kulisse bilden. Da würde man doch glatt einziehen. In „Zivilisatorisches Missgeschick“ gibt es schließlich auch richtige Lärmausbrüche, die sich mit ruhigen Passagen abwechseln. Die Bandbreite an Dingen, die zur Klangerzeugung benutzt werden, scheint schier unendlich zu sein, beispielsweise Maschinenlärm und das Zischen von Pressluft. Teilweise klingt es wie „from outer space“. Die Percussion in „Taschen“ klingt definitiv selbstgemacht, irgendwie nach einer Mischung aus Pappkarton und Plastiktüte, was der Wahrheit scheinbar sehr nah kommt, wie ich dem Pressetext entnehmen kann. Dennoch klingt es nicht billig, sondern wohlüberlegt inszeniert. Dazu gesellen sich ein Glockenspiel und Streicher, und natürlich Blixa. Magisch, ich wünschte, das Stück wäre länger.

Einstuerzende_Neubauten_20_1c_credit_Mote_Sinabel1„Seven screws“ wirkt sehr gediegen mit seinen bestimmenden tiefen Klängen, womit ich Blechblasinstrumente assoziiere. Die Textzeile „Für immer neu“ könnte das sinnbildliche Motto der Neubauten sein, immer auf der Suche nach neuen Klängen, die natürlich auch bei diesem Lied nicht fehlen dürfen. Das Titelstück „Alles in Allem“ ist ein sehr intensives Stück, das ganz behutsam mit einem Xylophon beginnt. Der Geist von Kurt Weill und Bertold Brecht weht darüber. Schließlich setzt Blixas Stimme ein, die von orgelähnlichen Klängen getragen wird. Auf seine unnachahmliche Weise rezitiert er ruhig die Lyrics, dass es eine Gänsehaut auszulösen vermag. „Grazer Damm“ im Anschluss ist ähnlich, besitzt aber mit den langgezogenen Gitarrentönen eine sehr psychedelische Note. Streicherarrangements runden das Ganze ab. Bei „Wedding“ fällt mir vor allem das sehr düstere Bassspiel auf. Unmöglich zu sagen, was da noch alles im Hintergrund passiert, jedenfalls steigert Blixa seinen Gesang ebenso im Verlauf des Stücks, wie sich allerlei Percussion bis zum Finale hin steigert, für das man sich wieder in Wedding einfindet. Zum Abschluss bildet „Tempelhof“ einen melancholischen Abgesang auf den gleichnamigen ehemaligen Flughafen. Die Tristesse eines trüben Herbsttags in den verlassenen Hallen wird sehr gut bildlich vor Augen geführt.

Fazit: Alles in allem ist Alles in Allem alles in allem. Ein gelungenes Gesamtpaket der Einstürzenden Neubauten, in dem sich Altbekanntes mit neuen Klangexperimenten verbindet. „Für immer neu“ verkündet Blixa selbst, ein Motto, das sinnbildlich für die fortwährende Suche nach ihrem höchsteigenen musikalischen Kosmos. Nach den anfänglichen Lärmexzessen sind sie im Laufe der Jahre zwar ruhiger und zugänglicher geworden, vermitteln aber noch immer ein intensives Hörerlebnis, das seinesgleichen sucht. In jedem Stück gibt es wesentlich mehr zu entdecken, als man es in einer Rezension ausdrücken könnte.

Anspieltipps: Hey, das sind die Neubauten. Also bitte…
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Einstürzende Neubauten – Alles in Allem
Potomak / Indigo, Vö. 15.05.2020
CD 16,90 €, LP 22,90 € erhältlich über Flight 13 Records
Homepage: https://neubauten.org/
https://www.facebook.com/EinstuerzendeNeubauten
https://www.instagram.com/neubautenorg/
http://indigo.de/

Tracklist:
01 Ten Grand Goldie
02 Am Landwehrkanal
03 Möbliertes Lied
04 Zivilisatorisches Missgeschick
05 Taschen
06 Seven screws
07 Alles in Allem
08 Grazer Damm
09 Wedding
10 Tempelhof

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