Repeating history?

4PAN1T„Wir alle merken wohl, dass im Moment viele Dinge in unserer Welt nicht ganz richtig laufen. Fehlende Menschlichkeit und Solidarität, fehlendes Geschichtsbewusstsein und die Verhöhnung von Opfern des Nationalsozialismus. Die Liste ist endlos – ebenso wie die Ignoranz mancher Mitmenschen. Solche Themen haben wir diesmal verarbeitet und unseren Gedanken, Ängsten und Hoffnungen einfach mal Luft gemacht. Aber natürlich drehen sich einige Songs auch wieder um Liebe, Sehnsucht und Leidenschaft.“ Ein Zitat aus dem Band-der-Woche-Interview von Robert Grolms zum neuen Synthiepop-Werk Friedensfahrt, das Ende September erschienen ist. Das ist eine Aussage des GimmeShelter-Sängers, die mich neugierig gemacht hat.

Ganz große Klasse ist schon der Einstieg: „Friedensfahrt“ – sofort habe ich Melotron-Erinnerungen und kann mich dem „Und ich tanz …“ ergeben. Der Text und die Musik fräsen sich durch Wiederholungen ein, man wiegt sich unmittelbar mit. „Bombing forces“ und „Colder than storm“ treten wesentlich aggressiver auf und sind absolut tanzbar. Ersteres hat eine düstere textliche Vorhersage: „collapsing buildings everywhere“, dazu kommen orientalische Musikanleihen. Das melancholische „Colder than storm“ überrascht gegen Ende mit einem deutschen Text im Hintergrund. Robert Grolms sagt dazu auch: „Gimme Shelter wäre nicht Gimme Shelter, wenn zwischenmenschliche Beziehungen in den Songs keine Rolle spielen würden. Schließlich nimmt das ja auch einen großen Teil unseres tatsächlichen Lebens ein. Wir wollen uns nicht ständig nur Gedanken machen über die Schlechtigkeit der Welt. Nein, es gibt so viele schöne Momente im Leben und meistens haben sie mit Liebe zu tun … gleichsam sprechen wir allerdings die nachdenklicheren Phasen von Liebesbeziehungen an“.
Synthesizer und Geräusche bilden das Instrumental zu „Stolperstein“, beendet wird es mit einem Aufmarsch im Gleichschritt. „Nacht & Nebel“ ist wieder sehr tanzbar, deutlich zu hören ist die Drum-Machine, es wird gegen das Vergessen angesungen. Robert zum Inhalt: „Wir schreiben hier aus der Perspektive eines Insassen in einem der unzähligen Konzentrationslager zur Zeit des Nationalsozialismus. Natürlich können wir uns die wirklichen Qualen und die tägliche Angst vor dem Sterben nicht vorstellen, da wir ja in einer Welt leben, die uns in Watte einpackt. Aber es gibt so viele Erlebnisberichte, die uns zumindest erahnen lassen, was damals in diesen Lagern passiert ist.“

„Wave Goodbye“ – Filmregisseur Kilian Winter:

Die Synthesizer sprudeln über zu „Sobibor“, es wurden deutsche, düstere Sprachfetzen eingewoben, der Anklang an Front 242 ist nicht überhörbar; fast nahtlos wird übergegangen zu „Repeating History“, allerdings mit höherer Taktzahl und einem Aggressionspotential in der Stimme von Sänger Robert. Gläserklirren und Gelächter folgen beim nächsten kurzen Instrumental „Etappe XIII“, inklusive musikalischer Spielereien ähnlich wie bei Jean Michel Jarre einschließlich Erinnerungen an ein Amateurradrennen in der ehemaligen DDR. Ein gefälliger Synthiesong ist mit „Into the night“ entstanden. „We are all the same“ – Gleichheit, Brüderlichkeit, Solidarität mit Menschen in Not … ein flotter Synthie-Song mit ernstem und aktuellem Hintergrund. Endlich wieder ein deutscher Text folgt bei „Jedesmal“, es geht um eine verlorene bzw. vergangene Liebe. Zum Abschluss wird ein düsteres Szenario entworfen: „Apocalypse“ ist das, was uns vielleicht einmal treffen kann, wenn nicht umgedacht wird. Die feine, angenehme Synthesizer-Untermalung täuscht, da sind (Kanonen-)Einschläge zu hören. „Umweltzerstörung und Massentierhaltung sind die Probleme unserer Zeit. Es wird Zeit zum Umdenken. Und das konsequent. Konsum muss endlich voll bewusst stattfinden. Diese Ausreden, man wisse nichts von Kinderarbeit und Tierquälerei, zählen nicht mehr. Alle Informationen sind vorhanden“, gibt Robert zu bedenken.

Soviel Ernst mit gut abgestimmtem, tanzbarem Synthiepop. Niko Kötzsch und Robert Grolms haben mich begeistert. Die Melancholie, die Beschäftigung mit Geschehnissen in dunklen zurückliegenden wie jetzigen Zeiten wurden in ein elektronisches Kleid aus digitalen bzw. analogen Synthesizern und Drum-Machines gesteckt. Die eingängigen Melodien werden mit zeitweiser Aggressivität gepaart, was aus der Routine reißt und dadurch nicht langweilig wird. Die Produktion der CD hat zwei Jahre gedauert, aber es war sicherlich harte Arbeit, all diese Geschichten zu komponieren. Klangtüftler Niko Kötzsch hat an der elektronischen, manchmal filigranen Art der Musik einen großen Anteil. Kurz und bündig: Großartige Arbeit!

Anspieltipp: Friedensfahrt, Nacht & Nebel

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Gimme Shelter: Friedensfahrt
Space Race Records, Vö. 27.09.2019
13,75 € z.B. bei POPoNAUT

Tracklisting
01. Friedensfahrt 4.26
02. Bombing forces 3.36
03. Colder than storm 4.45
04. Stolperstein 3.22
05. Nacht & Nebel 5.16
06. Wave Goodbye 4.18
07. Sobibor 2.32
08. Repeating history 3.25
09. Etappe XIII 1.59
10. Into the night 3.31
11. We are all the same 4.10
12. Jedesmal 3.54
13. Apocalypse 3.41

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  1. […] Seit 2009 sind Robert Grolms und Niko Kötzsch mit ihrem Electropop/Synthpop-Projekt Gimme Shelter aktiv und erschaffen seitdem vielfältige Elektro-Songs mit mitreißenden Melodien und einfühlsamen, gesellschaftskritischen Texten. Nach ihrem Debütalbum Warnemünde und Kosmodrom hat das Duo pünktlich zum 10-jährigen Bestehen Ende September sein drittes Studioalbum Friedensfahrt veröffentlicht, das uns sehr begeistert hat (hier zur Review). […]

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