Neues von den Sieben!

Am 11.4.2020 sind In Extremo auf den Tag genau 25 Jahre alt geworden. In Ex-Frontmann Micha Rhein und die sechs Haudegen um ihn herum hätten dazu ihr 13. Album namens Kompass zur Sonne herausgebracht. Doch die lustigen bunten Vögel von den Mittelaltermärkten, als die sie einst begannen, und als die sie sich trotz des Wahnsinnserfolgs in der ganzen Welt immer noch sehen, mussten aufgrund der internationalen Katastrophe um das Corona Virus Album und Tour verschieben. Deshalb gab es zusätzlich zur Vorab-Auskoppelung „Troja“ noch das Titellied per Youtube-Video als Wartezeit-Tröster sowie das Lyrik Video zu „Wintermärchen“ im Netz zu sehen. Auch „Wer kann segeln ohne Wind“ konnte man schon abrufen.

Ich lege die CD ein und bin: zwiegespalten. Ich bin ein großer In Extremo-Fan … gewesen. Die letzten Alben waren für mich eher Spaßalben, klar erkennbar In Extremo, wegen der Stimme von Michael Rhein, wegen gewisser Instrumente, aber es hat mich nicht mehr so mitgenommen. Deshalb bin ich auch nach „Troja“ ein wenig enttäuscht. Das Video ist großartig, mir erschließt sich aber der Sinn nicht ganz, und es ist einfach wieder ein wenig hingebrüllt, mit ein wenig Dudelsack unterlegt, und gut ist’s. Doch schon „Kompass zur Sonne“ kann mich packen. Es beginnt wie ein irisches Traditional, Sackpfeife, Dudelsack, Schalmei, Mittelalter pur! Eigentlich ist es ein Rocksong, doch im Refrain wird es Mittelalter. Das Video dazu könnte ich mir in Spielfilmlänge ansehen, klasse gemacht! Deutschland, irgendwo im Osten 1967, sieben wagemutige Männer versuchen zu fliehen, mit Landkarte und Kompass in Richtung Sonne. Schön gemacht, auch wenn es am Schluss nicht geklappt hat und sie wie schon öfters inhaftiert werden, der Micha (diesmal nicht als „Das letzte Einhorn“ sondern als „Der Bunkerkönig“), PY („Dr. Pymonte“ oder auch „Der Schlepper“) und die anderen Fünf der Glorreichen Sieben. „Lügenpack“, das Lied über die Zunge, mit der man so viel machen kann: streiten, liebkosen, lecken und schmecken, lügen, das kann sogar dazu führen, dass einem die Zunge abgeschnitten wird. Mittelalter halt! Sound: Mittelalter! „Georgya“ ist eine Kollaboration mit der Wiener Band Russkaja, mit der man sich im Lauf der Zeit angefreundet hat. Beginnt unheilschwanger, ein weniger russisch, wird dann aber ein schneller Song, die zwei verschiedenen Stimmen machen Spaß. „Salva Nos“ mit seiner lieblichen Pfeife am Anfang hätte ich mir zur Serie The Witcher vorstellen können. Beginnt harmlos, endet meist im Verderben. Bei „Schenk nochmal ein“ könnte man denken, dass es sich um ein Trinklied handelt, doch das stimmt nicht. Es ist ein Lied über eine Trennung, verursacht durch den Tod, ein eher melancholisches Stück. Nach „Saigon und Bagdad“ und „Narrenschiff“ kommt mein absolutes Highlight. In dieses Stück habe ich mich regelrecht ein bisschen verliebt: „Wer kann Segeln ohne Wind“. Hier wird Micha gesanglich unterstützt durch Johan Hegg von Amon Amarth, den alten Schweden des Viking-/Death Metal. Man fragt sich, wie kommen diese beiden denn zueinander? Das ist manchmal ganz einfach. Sie kennen sich schon eine ganze Zeit lang durch Festivals wie das Summerbreeze und Wacken. Man nahm zusammen ein traditionelles schwedisches Volkslied auf, das natürlich stark verfremdet ist, aber wahnsinnig gut rüberkommt und sich gleich im Gehörgang einnistet. Einmal auf das Video dazu geklickt, möchte man es gleich ein paarmal sehen. Hier gibt es ein Hackbrett, es beginnt ganz ruhig, klassisch. Ein Segelboot treibt auf einem ruhigen Wasser, dazu die Stimme von Micha, dann wird es zu einem animierten Zeichentrickfilm, in wenigen, eher kalten Farben gehalten, Johan singt die gleichen Liedzeilen rezitierend in seiner Sprache, das Schlagzeug und die Metal-Instrumentierung hauen voll rein, jetzt regnet es! Auf die Idee, „Vem kan segla förutan vind“ gemeinsam zu vertonen, darauf muss man erst einmal kommen, ruhig und doch wuchtig, Growling bei In Extremo: immer wieder was Neues. Der Gastsänger von Amon Amarth gefällt mir deutlich besser als seinerzeit Der Graf von Unheilig. Dann kommt „Reiht euch ein ihr Lumpen“, ein Powersong, und „Biersegen“: astreine Mittelalterfestival-Songs, wo man mit seinem Met, seinem Kirschbier oder um Odins Willen, sollte es das nicht geben, halt mit seinem Hellen oder Weißwein schunkelt und sich zuprostet. Gegen Ende des Silberlings kommt noch ein Stück, das ich unbedingt hervorheben möchte: „Wintermärchen“ mit seinem schönen, kleinen, winterlichen Video ist eine ruhige Ballade, getragen von Michas Stimme, der hier wie ein Märchenonkel rüberkommt. Die Geschichte handelt von einer Drossel, die gefragt wird, warum sie nicht auch wandert wie die anderen Zugvögel? Ganz einfach: Weil sie anders ist als die anderen. Tja, so leicht lässt sich manches beantworten.

Dieses 13. Album von In Extremo macht gewaltig Laune, und es ist sogar wieder trendy. In Zeiten, wo man den epischen Geschichten von Game of Thrones nachtrauert, das endgültige Finale von Vikings herbeisehnt und soeben das Ende von The last Kingdom gesehen hat, gefällt einem diese Art von etwas ernsthafterer Mittelaltermusik vielleicht wieder besser. Ich selbst bin Mittelaltermusik gegenüber gespalten. Da gibt es die heiligen Gruppen mit ihren klassischen Musiken und Gesängen, die sich fast ein wenig zu ernst nehmen, dann gibt’s die Spaß- und Trink-Bands, die man hingegen von der Musik her kaum ertragen kann, dann sind da die Formationen, die schon fast ein wenig zu rockig sind, und dann wieder die, die perfekt wären, wenn … man die Stimme des Sängers ertragen könnte. Bei In Extremo stimmt diesmal wieder alles. Die historischen Einflüsse mit ihren Mittelalterinstrumenten sind da, die Metal-Gitarren verhelfen zu modernem Touch mit mitreißender Energie, die Stimme passt zu den Liedern, man kann mitsingen, mittanzen, mitschwelgen. Der In Extremo-Sound ist nach wie vor unverwechselbar. Man wollte ja vor Jahren schon „Unsere 7“ zu den „2. Toten Hosen“ machen, was fast gelungen wäre, wenn da nicht diese elendigen Schalmeien, Harfen, Dudelsäcke und Sackpfeifen gewesen wären. Aber sie haben es einfach nicht gelassen damit. Denn ein In Extremo wird niemals knien!

Neben der Standard-CD und einer Vinylausgabe (Doppel-LP auf 180g) werden auch eine „Deluxe Edition“ im Hardcover-Book sowie eine „Fan Box“ (Deluxe Edition plus Merch-Items) aufgelegt.

Viele Events wurden dieses Jahr bereits gecancelt aufgrund der weltweiten Situation um Corona. Aber vielleicht klappt’s ja mit der In Extremo „Kompass zur Sonne Tour 2020“. Der 8.10.2020 wäre dabei für München (Zenith) vorgesehen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, mich dort anzutreffen.

Anspieltipp: Wer kann segeln ohne Wind

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

In Extremo: Kompass zur Sonne
Vertigo Berlin (Universal Music), Vö. 08.05.2020
CD 19,99, MP3 10,99 € (Digipack)

Tracklist:
01 Troja
02 Kompass zur Sonne
03 Lügenpack
04 Gogiya (feat. Russkaja)
05 Salva Nos
06 Schenk nochmal ein
07 Saigon und Bagdad
08 Narrenschiff
09 Wer kann segeln ohne Wind (feat. Johan Hegg)
10 Reiht euch ein ihr Lumpen
11 Biersegen
12 Wintermärchen
13 7 Brüder
14 Saigon und Bagdad (Club Mix)

(1936)