Ein Hoch auf das Leben!

 

Viel ist passiert seit Imaginaerum, dem letzten Album von Nightwish: Sängerin Anette Olzon verließ die Band und wurde durch Floor Jansen (ehemals After Forever) ersetzt, Tuomas Holopainen vertonte das Leben einer Ente (Review), und Drummer Jukka nahm sich krankheitsbedingt eine Auszeit. Jetzt ist es endlich soweit, und der neue Silberling der Finnen liegt in den Regalen. Das Album mit dem etwas kryptischen Titel Endless Forms most beautiful (man bemühe zur Erklärung Charles Darwins The Origin of Species) soll eine Hommage an die Schöpfung, die Natur und das Leben sein. Also hören wir doch mal rein.

„Shudder before the Beautiful“ ist als Opener dem ersten Track von Once (2005) nicht unähnlich, sowohl die Gitarrenriffs als auch der Einsatz von Chor und Orchester erinnern stark an „Dark Chest of Wonders“. Das war aber auch damals schon ein gelungener Einstieg ins Album, und so ist es auch diesmal wieder. „Shudder before the Beautiful“ erfasst die Quintessenz des Albums: Die Wunder der Welt, in der wir leben, und vor denen wir nur in Bewunderung erschaudern können. Außerdem zeigt Floor Jansen direkt, was sie kann. Man konnte sie auf der letzten Tour ja schon regelmäßig hören, aber nie mit „ihren eigenen“ Liedern. Es wird sofort klar, dass sie stimmlich flexibler und kraftvoller ist als Anette. Sie beherrscht Klargesang genauso gut wie Rock-Röhre, muss nicht gegen den massiven Sound von Band und Orchester „anschreien“ und bereichert damit die Musik deutlich.
Track Nummer zwei, „Weak Fantasy“, kommt deutlich härter und dunkler daher. Der Einsatz von akustischen Gitarren über dem Teppich von Drums und Bass bietet einen tollen Gegensatz. Insgesamt hört man den Einfluss von Co-Komponist Marco Hietala durch – eine schöne Ergänzung.
„Élan“, die erste Singleauskopplung des Albums, ist zwar eine typische Nightwish-Single – ein wenig mainstreamig, ein wenig poppig, leicht zuzuhören und zu behalten –, aber punktet bei mir trotzdem durch seine unheimlich positive Energie und das große, epische Finale. Insbesondere in Kombination mit dem Videoclip jagt mir das schon den einen oder anderen Schauer über den Rücken.
Der nächste Track, „Yours is an empty Hope“, beginnt düster und wird noch düsterer. Auch hier findet man Parallelen – ach was, ganze Elemente – aus „Dark Chest of Wonders“. Wird Tuomas faul, jetzt wo er auf die 40 zugeht? Aber besser gut wiederholt, als schlecht neu ausgedacht. Außerdem bekommt „Yours is an empty Hope“ ähnlich düster-verrückte Elemente mit wie „Scaretale“ aus dem Vorgänger Imaginaerum und erhält dadurch einen ganz eigenen Charakter.
„Our Decades in the Sun“ beginnt sehr schön, sackt dann aber in eine rechte langatmige Schmonzette ab. Die Geste ist sicher nett, ein Stück für seine Eltern zu schreiben – letztendlich ist es aber viel zu wenig interessant, um für sechs Minuten herzuhalten.
Zum Glück folgt danach mit „My Walden“ ein folk-metalliges Energiebündel im Stil von „Into the Wild“. Manchen mag das vielleicht zu fröhlich sein, aber ich finde, es trifft den Grundtenor des Albums sehr gut.
Über den titelgebenden Song „Endless Forms most beautiful“ kann ich mir keine rechte Meinung bilden. Er hat absolut großartige Momente, aber irgendwie passt er hinten und vorn nicht recht zusammen und hat dadurch fast den Charakter einer B-Seite. Und was das Fingertier und die Spitzmaus im Text zu suchen haben, hat sich mir auch noch nicht ganz erschlossen.
„Edema Ruh“ – selten hat ein Song so polarisiert in meinem Kopf. Hier in Schottland gibt es eine Art „National-Softdrink“ namens Irn Bru. Dieses Getränk ist neon-orange und schmeckt auch so. Ein Glas lang ist dieses Geschmackserlebnis total geil, dann möchte man sich übergeben. Genauso ist „Edema Ruh“ auch. Ich höre es absurd gern, denke mir aber nach jedem Mal „Gott sei Dank ist es vorbei!“. Verrückt.
Mit „Alpenglow“ nähern wir uns dem Ende des Albums, das leider ein ähnliches Problem hat wie „Endless Forms Most Beautiful“: tolle Momente, aber insgesamt irgendwie in sich nicht stimmig.
Hinter dem kryptischen Titel „The Eyes of Sharbat Gula“ verbirgt sich das Instrumental dieses Albums, und es lässt atemberaubende Bilder im Kopf entstehen. Man reitet nachts auf einem Esel durch die Hochpässe des Himalaya. Der weite Himmel voller Sterne spannt sich über der Welt, gelegentlich säuselt der Wind und trägt die Klänge eines Klosters heran, hin und wieder zeichnen sich die bedrohlichen Silhouetten der höchsten Berge der Welt vor dem dunklen Nachthimmel ab. Gänsehaut.
Wer denkt, jetzt wäre das Album bald zu Ende, täuscht sich allerdings. Die letzte Nummer, „The greatest Show on Earth“, erzählt in epischen 25 Minuten die Geschichte der Erde und der Menschheit. Aus der Ursuppe kriechen die ersten Lebewesen hervor, und schließlich erhebt sich der Mensch und hinterlässt seine Spuren, inklusive Zitaten aus der Musikgeschichte. „We were here!“ ist die Essenz dieses Stücks. Auch hier sind absolut großartige Momente enthalten, man könnte aber kritisieren, dass die 25 soundtrackhaften Minuten für den „Alltagsgebrauch“ einfach zu lang sind.

Endless Forms most beautiful ist mal wieder ein Album, das typisch Nightwish und trotzdem ganz anders ist. Floor hat sich etabliert, ihre flexible Stimme fügt sich wunderbar in die komplexe Musik ein. Trotzdem muss ich festhalten, dass es eine Handvoll Stücke gibt, die bei mir definitiv aus der Playlist fliegen werden, und das ist bei Nightwish eine echte Seltenheit. Bei vielen anderen Bands wäre ein Album mit einer Trefferquote von acht von elf Liedern ein absoluter Höchstpunkte-Kandidat, aber Nightwish haben ihre eigene Messlatte und damit meine Erwartungen in vielen Jahren so hoch gelegt, dass es dafür einen Mosher Abzug gibt. Endless Forms most beautiful ist trotzdem zweifellos und wie erwartet ein grandioses Album, voller Energie, großartigen Ideen und perfekter Umsetzung, auch wenn sich Tuomas hier und da ein wenig verkünstelt hat. Es sei ihm verziehen.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

Anspieltipps: Shudder before the Beautiful, Élan, My Walden

 

Nightwish – Endless Forms Most Beautiful
Nuclear Blast, März 2015
Ab 12,90€ in verschiedenen Versionen auf amazon
Gesamtspielzeit: 78:36 Minuten

 

Tracklist:
01. Shudder before the Beautiful
02. Weak Fantasy
03. Élan
04. Yours is an empty Hope
05. Our Decades in the Sun
06. My Walden
07. Endless Forms Most Beautiful
08. Edema Ruh
09. Alpenglow
10. The Eyes of Sharbat Gula
11. The greatest Show on Earth

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