Schwedische Fundgrube

Progress ProductionsSchweden – Land der Elche und der Mitternachtssonne, Heimat von Astrid Lindgren, IKEA und der Kanelbullar, den unwiderstehlichen Zimtschnecken. Musikalisch vor allem mit ABBA und Roxette weltweit bekannt, doch das Faszinierende an dem Land ist unter anderem, dass aus nahezu jedem Genre absolut hochkarätige Bands kommen. Egal ob Metal, Rock ’n’ Roll oder Punkrock – mit gitarrenlastigen Bands aus Schweden kann man eigentlich nichts falsch machen.
Doch in den letzten Jahren hat sich auch die (schwarze) Synth-Szene des Landes international einen Namen gemacht, und immensen Anteil hat daran eine kleine, unabhängige Plattenfirma in Göteborg, Progress Productions. 2004 von Torny Gottberg gegründet, beherbergt sie so renommierte Künstler wie Henric de la Cour, Agent Side Grinder, Kite oder Spark!. Außerdem haben die Labelmacher ein hervorragendes Händchen für neue Talente aus allen Bereichen des schwarz-elektronischen Kosmos.
Mit ihrem diesjährigen Label-Sampler We are progress, den es exklusiv und kostenlos als CD auf Festivals und Konzerten gibt, stellen Progress Productions ihre derzeit wichtigsten Künstler vor.

Den Anfang machen Red Cell mit sehr eingängigem, hochklassigem Synthpop, „Lust“ macht definitiv Lust auf mehr. Das Duo Kite räumt ja derzeit auf allen wichtigen Festivals ab und wird mit seiner Deutschlandtour im Oktober sicher für die eine oder andere ausverkaufte Halle sorgen. Ihr handgemachter Synth mit den fantastischen Ohrwurmmelodien geht sofort zu Herzen, einmal gehört, vergisst man die Band so schnell nicht wieder. „Demons & shame“ gibt einen Vorgeschmack auf zukünftige Großtaten. Die Malmöer Postpunk-Band Ra, die vor einigen Jahren den Unfalltod eines Bandmitglieds verkraften musste, ist ganz neu im Progress-Productions-Stall und erweitert das elektronische Spektrum um melancholische Postpunk-Töne („Oceans“). Henric de la Cour, der in Schweden vor seiner Solokarriere bereits sehr erfolgreich mit Yvonne und Strip Music war, steuert den neuen Track „Worthless web“ zu diesem Sampler bei – einzigartige Stimme gepaart mit melancholisch-düsterpoppigen Melodien. Wulfband spielen klassischen EBM der schwedischen Schule (Container 90, Sturm Café) – interessanterweise auf Deutsch! – und sorgen für glühende Stiefelsohlen („Kaos MF“). Wer sich hinter den Pseudonymen 7 und 9 versteckt, ist bis heute nicht geklärt – aber solange die Musik stimmt, ist das ja auch egal.
Etwas komplexer gehen Cryo zu Werke, bei denen Labelchef Torny höchstpersönlich an den Drums steht, den Gesang übernimmt Martin Rudefelt. Cryo stehen für EBM-beeinflussten, tanzbaren Synth, der aber nicht nur auf die Tanzfläche abzielt. „Go to war“ in der 2017er-Version zeigt hervorragend die Stärken der Band. Brachial-elektronisch geht Carl Nilsson alias Lucifer’s Aid („Control yourself“) zu Werke, ebenfalls eine ganz neue Entdeckung der Plattenfirma. Verzerrte Vocals, brodelnde Beats, eine hypnotische Atmosphäre – dass das auch live hervorragend funktioniert, hat Lucifer’s Aid gerade auf dem WGT und dem Amphi unter Beweis gestellt. Seven Trees stehen für etwas frickeligeren Elektro à la Front Line Assembly und Co. – „Black ice“ wirkt genauso, wie es der Titel suggeriert: kühl und bedrohlich. Haul könnten dagegen wieder für die Postpunk-Fraktion interessant sein, „Dystopia“ paart leidenschaftliche Vocals mit genretypischen Gitarrenläufen.
Agent Side Grinder stehen im Moment vor einer etwas ungewissen Zukunft, nachdem gleich drei Mitglieder aus Zeitgründen aussteigen mussten (darunter auch Sänger Kristoffer Grip). Die verbleibenden Johan Lange und Peter Fristedt wollen die Reise durch das Retro-Synth-Universum weiterführen – hoffentlich gelingt es! „Last rites“ vom aktuellen Album Alkimia bietet mit Nicole Sabouné eine hochkarätige Gastsängerin – wer sie als Solokünstlerin noch nicht kennt, sollte das schnellstens nachholen. Auch das EBM-Duo Spark! musste vor einigen Jahren den Ausstieg von Sänger Stefan Brorson verkraften. Nach einem englischsprachigen Album mit diversen Gastsängern hat sich Mattias Ziessow mit Christer Hermodsson (Sista Mannen På Jorden, Biomekkanik) zusammengetan, und das aktuelle Album Maskiner zeigt wieder die alte Klasse mit schwedischen Texten und Ohrwurmmelodien. „Snabbare och högre“ ist ein bisher unveröffentlichter Track.
The New Division (alias John Glenn Kunkel) spielen klassischen Synthpop/New Wave und dürften damit für Fans von Depeche Mode, Erasure und Co. interessant sein. „Vicious“ ist ein tanzbarer Ohrwurm, der Lust auf mehr macht. DupontDaniel Jonasson und Rickard Svensson – sind alte Bekannte in der EBM-Synth-Szene, „Corridor“ schlägt in die gleiche Kerbe wie der kleine Szenehit „Dope of love“ und setzt sich sofort in den Gehörgängen fest. Johan Baeckström – sonst Sänger von Daily Planet – agiert auch solo mit zauberhaftem Synthpop, „Silence“ klingt nach alter schwedischer Synthie-Schule, reduziert und mit großem Refrain. DNR & DO alias Johan Hellqvist und Erik Frankel haben erst eine EP veröffentlicht, die aber für alle Fans von schwedischem Indie (Bob Hund, Broder Daniel), aber auch von gewissen Synth-Elementen von größtem Interesse sein dürfte. „Nollsju“ ist ein schmissiger Song mit schwedischem Text, den Indiepophörer antesten sollten. Necro Facility („Skrik“) haben sich seit ihrer Gründung im Jahr 2001 einen Namen bei Fans von Front Line Assembly, Skinny Puppy oder Velvet Acid Christ gemacht, sind aber von verschiedenen Musikstilen beeinflusst.
Daily Planet mit dem bereits erwähnten Johan Baeckström haben nach langer Pause 2017 ihr drittes Album Play Rewind Repeat herausgebracht, dessen Eröffnungstrack „Goodbye late nights“ ist. Synthpop mit glockenheller Stimme – da kann man als Fan nichts falsch machen. Mit ihrem dritten Album Signal sind Hearts of Black Science („Until morning“) 2015 bei Progress Productions gelandet, düster-elektronische Soundlandschaften mit Postpunk-Anleihen sind ihre Spezialität.

18 Songs von 18 hochkarätigen Bands – nur ein kleiner Ausschnitt aus dem über 100 Künstler umfassenden Programm von Progress Productions, ein Blick auf die Webseite und in den dazugehörigen Shop (vernünftige Preise, nicht allzuhohe Portokosten aus Schweden; schwedische Kronen etwa durch zehn teilen, um auf den Europreis zu kommen) lohnt sich. Bands wie Kite, Agent Side Grinder, Spark!, Cryo oder Henric de la Cour haben sich in Deutschland bereits einen Namen gemacht, doch auch die anderen Künstler verdienen meiner Meinung nach die Aufmerksamkeit eines internationaleren Publikums.

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Progress Productions: We are progress
Promosampler 2017
Länge: 74 Minuten
Not for sale

1. Red Cell – Lust (2017, bisher unveröffentlicht)
2. Kite – Demons & shame
3. Ra – Oceans
4. Henric de la Cour – Worthless web
5. Wulfband – Kaos MF (bisher unveröffentlicht)
6. Cryo – Go to war (2017, bisher unveröffentlicht)
7. Lucifer’s Aid – Control yourself
8. Seven Trees – Black ice
9. Haul – Dystopia (bisher unveröffentlicht)
10. Agent Side Grinder – Last rites
11. Spark! – Snabbare och högre (bisher unveröffentlicht)
12. The New Division – Vicious
13. Dupont – Corridor
14. Johan Baeckström – Silence (bisher unveröffentlicht)
15. DNR & Do – Nollsju
16. Necro Facility – Skrik
17. Daily Planet – Goodbye late nights
18. Hearts of Black Science – Until morning

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