Vergessen und unterschätzt

leichenwetter_cd_zeitreise_download_1440pxMusiker haben keinen direkten Bildungsauftrag und trotzdem kann ein Songtext dazu genutzt werden. Bei Leichenwetter ist das sogar ziemlich einfach. Diese Band hat es sich zur Aufgabe gemacht, verstorbenen deutschsprachigen Dichtern zu neuem Glanz zu verhelfen. Wer nun glaubt, sie wollen es sich einfach machen, indem sie sich davor drücken selbst zu texten, hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie man einem Gedicht musikalisches Leben einhaucht. Viele dieser Texte sind überraschend modern, wenn man sich die Mühe macht genauer auf die Worte zu achten. Sie haben es verdient, gelesen oder, wie in diesem Fall, gehört zu werden. Vereinfacht wird dies dadurch, dass die Musik ins Ohr geht und man Sänger Numen nicht nur gerne hört, sondern er auch einen sehr eigenen Charme besitzt.

Zeitreise ist eine Live-CD (mit Live-DVD), die nicht nur Stücke aus dem letzten Album Zeitmaschine (das bis auf die Hintergrundfarbe fast gleiche Cover legt eine höhere Ähnlichkeit nahe), sondern auch Älteres von längst vergriffenen Scheiben in ein neues Gewand kleidet. Auch wenn das Cover nicht gerade detailreich gestaltet ist sollte die Bedeutung der Masken erwähnt werden. Bis vor ungefähr zweieinhalb Jahren konnte das Publikum bei Auftritten von Leichenwetter die Mimik der Musiker nicht verfolgen, weil sie eben diese Masken trugen.
Die Musik bewegt sich zwischen Hard Rock, Gothic und Metal, wobei Ergänzungen durch Streichinstrumente, Synthesizer und orchestrale Klänge das Erlebnis bereichern. Auch wenn sie oftmals der Neuen Deutschen Härte zugerechnet werden passt diese Einordnung nicht und wird von der Band abgelehnt.

Mit einer „Anrede“ (Ernst Stadler) zu beginnen macht Sinn. Ein wunderbarer Text über das Verrinnen der Zeit und die Vergänglichkeit an sich. Gekonnt in Szene gesetzt mit einem stampfenden Rhythmus zu Beginn und insgesamt schneller, fast fließender Vertonung. Numens Wechsel zwischen rauer und sanfter Stimmlage gefällt nicht nur hier.
Elektronische Töne leiten „Letzte Worte“ (Annette von Droste-Hülshoff) ein, gefolgt von harten Gitarrenriffs. Tröstende Worte an die Hinterbliebenen umhüllt von Haevy Metal, unterstrichen von ein paar Geigentönen und dem einen oder anderen künstlichen Klang.
„Verklärung“ (Johann Gottfried von Herder) rockt ohne zu übertreiben. Bei der Beschreibung des Sterbens ist das vielleicht auch passender. Wieder beeindruckt sowohl die Wandelbarkeit des Sängers als auch die eingestreuten Elemente, die die Musik nicht nur auflockern, sondern deutlich bereichern.
Leichtfüßig beginnt „Und die Hörner des Sommers verstummen“ (Georg Heym). Der Text beeilt sich ebenfalls. Leider geht in der Liveversion das eine oder andere Wort verloren. Ein Sturm trifft auf einen Landstrich und drückt auf Bauwerke, die Ernte und die Laune.
Eine Mischung aus hart und zart leitet eine „Romanze zur Nacht“ (Georg Trakl) ein und bleibt fast durchgehend erhalten. Den Text würde man heute als sozialkritisch bezeichnen, geht aber noch darüber hinaus. Ein Happy-End gibt es nicht.
Der Ruf zu Beginn klingt nach einem Muezzin. Unerwartet bei einem Lied, das „Allerseelen“ (Georg Trakl) heißt. Auch das „Aller“, das des öfteren ins Mikrofon gerufen wird, kann anders verstanden werden. Von einem Salzburger geschrieben wird es natürlich morbide, denn dort ist der Tod dahoam. Ein kritischer Blick auf den Feiertag und den Umgang mit dem Thema Tod mit einer zwischen getragen und fröhlich klingenden Musik.
Der Anfang zeigt, hier wurde jemand von dem gepackt, was Rammstein „Das alte Leid“ genannt haben. Diese wiederkehrenden Trommelschläge sind kein Zufall, denn „Die Beschwörung“ (Heinrich Heine) beschreibt eine sehr ungewöhnliche Möglichkeit, die ein Mönch ergreifen kann, wenn er entsprechend leidet. Es ist eher eine mit Musik untermalte Erzählung, die endet, wenn Nachrichtenmeldungen über verschiedene Missbrauchsfälle aus den Reihen der Kirche eingespielt werden.
Klar durchgerockt wird „O Schweig“ (Clemens Brentano). Ein Gedicht um unerfüllte Liebe und Sehnsucht. Keine herausragenden Besonderheiten, rasant und gut.
Bei „Chor der Toten“ (Conrad Ferdinand Meyer) handelt es sich um eine Bühnenpremiere. Das Läuten einer Kirchenglocke, wenige Töne von Geige und Synthesizer, ein seufzender Chor, dann setzt volltönend die Band ein. Mehrere Tempiwechsel, bei denen mal mehr, mal weniger Instrumente beteiligt sind, machen dieses Stück lebendig und interessant. Das Gedicht befasst sich mit den vermeintlichen Wünschen der Toten, der Hoffnung und dem Wissen, dass das eine oder andere Bestand hat.
Ein ungewöhnlich sphärischer Beginn, passend zum Schwanengesang, der in diesem „Schwanenlied“ (Gottfried August Bürger) tatsächlich gesungen wird, geht in einen kraftvollen Part über. Mehrere Wechsel, auch wenn es nie so sanft wird wie zu Beginn, untermalen den Text, der in seiner Traurig- und Hoffnungslosigkeit kaum schwankt.
Das nächste Lied ist laut Numens Ansage sehr, sehr alt, es heißt „Altes Lied“ (Heinrich Heine). Das Lachen vergeht recht schnell, denn es werden die Gefühle beim Verlust eines Kindes beschrieben. Nicht aufdringlich, aber auch nicht besonders zurückhaltend begleitet die Musik die Gedanken, die um das Kind und hauptsächlich sein Grab kreisen.
„Sehnsucht“ (Friedrich Schiller) ist ein getragenes Stück mit geringem elektronischem Anteil. Ein Fluss trennt den Sehnsüchtigen von dem Tal, in dem er gerne wäre. Am Ende entdeckt er ein Wassergefährt, allerdings ohne dessen Lenker. Manchmal muss man etwas riskieren.
Leichenwetter erweckt eines der bekanntesten Gedichte der Vergangenheit zu wohlklingendem Leben. Besonders die Wandelbarkeit von Numens Stimme macht daraus schon fast ein Hörspiel, was allerdings auf der CD Legende besser zu hören war. Der Text des „Erlkönig“ (Johann Wolfgang von Goethe) sollte bekannt sein, wenn nicht, kann diese Bildungslücke hiermit geschlossen werden.
Auch im „Schwanenlied II“ (Clemens Brentano) geht es um die Gedanken eines Sterbenden. Allerdings bezieht sich dieser eher auf den Prozess als seine Gefühle in den Vordergrund zu stellen. Das Intro klingt nahezu klassisch. Die gedrückte Stimmung wird von der Musik das gesamte Stück über beibehalten.
Ein sehr elektrolastiger, ruhiger Einstieg wird rockiger, bleibt aber getragen. Die „Feuerharfe“ (Yvan Goll) als Instrument der Veränderung.
Mit den Sätzen: „Wir sind auch unwürdig. Wir tun es trotzdem“ leitet Numen „Out of the Dark“ (Falco) ein. Eine Hard Rock Version die viele Elemente des Originals enthält. Anders, keinesfalls besser. Numen klingt etwas weniger sicher als sonst, vielleicht auch nur, weil es das vorletzte Stück des Konzerts ist.
Ein Lied zum Abschied, welches einen Abschied beschreibt. Jemand verlässt sein Zuhause, die „Mutter“ (Albrecht Haushofer) sieht ihm nach, in Gedanken spricht er zu ihr. Ein stampfender Rhythmus begleitet den Entschwindenden. Das Gedicht wird überraschend schnell intoniert, obwohl es auch ruhiger gegangen wäre. Eine interessante Interpretation als Schlusspunkt des Albums.

Numens Ankündigung und die wenigen Kommentare machen die Live-CD interessant, aber es hätte durchaus mehr sein dürfen. Musik, die mitreißt aber auch nachdenklich stimmt, Texte, die es verdient haben, wiederholt zu werden, und ein Sänger, der seine Stimme wunderbar zu modulieren sowie einzusetzen weiß und auch auf der Bühne überzeugt.
Eine Bereicherung für jeden Freund härterer Musik oder tiefgründigerer Texte.

Anspieltipp: Chor der Toten


Leichenwetter – Zeitreise
Echozone, 2012
13,99 € kaufen!

Tracklist:
01. Anrede (Live) (Ernst Stadler)
02. Letzte Worte (Live) (Annette von Droste-Hülshoff)
03. Verklärung (Live) (Johann Gottfried von Herder)
04. Und die Hörner des Sommers verstummen (Live) (Georg Heym)
05. Romanze zur Nacht (Live) (Georg Trakl)
06. Allerseelen (Live) (Georg Trakl)
07. Die Beschwörung (Live) (Heinrich Heine)
08. O Schweig (Live) (Clemens Brentano)
09. Chor der Toten (Live) (Conrad Ferdinand Meyer)
10. Schwanenlied (Live) (Gottfried August Bürger)
11. Altes Lied (Live) (Heinrich Heine)
12. Sehnsucht (Live) (Friedrich Schiller)
13. Erlkönig (Live) (Johann Wolfgang von Goethe)
14. Schwanenlied II (Live) (Clemens Brentano)
15. Feuerharfe (Live) (Yvan Goll)
16. Out Of The Dark (Live) (Falko)
17. Mutter (Live) (Albrecht Haushofer)

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