Schreiender Wahnsinn auf St. Pauli

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Braucht man ein Live-Album? Viele meinen ja, manche sagen vielleicht und es gibt wohl nur ganz wenige, die diese Frage verneinen. Live-Alben scheinen eine Notwendigkeit zu sein, die das Bedürfnis des Fanatikers nach einem endlosen Konzert befriedigen. Genau das will man doch: In der ersten Reihe stehen, die Band sehen und spüren, ihren Schweiß riechen, ihre Stimmen hören, die kleinen Ticks wahrnehmen und immer zur Musik tanzen und headbangen sowie sich ganz dem Auftritt hingeben. Klingt etwas geschwollen, aber so weit hergeholt ist das gar nicht. Denn tatsächlich fordert ein Großteil der Fangemeinde von seiner Lieblingsband ein Live-Album, und so hat sich auch eine Gruppe aus Hamburg dem Wunsch gebeugt und ein Konzert mitgeschnitten.

Lord of the Lost nennt sich die ambitionierte Band um Chris „The Lord“ Harms, der schon früh mit dem Cello-Spiel begann und schließlich auch andere Instrumente in Angriff nahm. Zusammen mit Gitarrist Bo Six, Bassist Class Grenayde, Drummer Disco und dem instrumentalen Wunderknaben Gared Dirge steht Harms seit knapp sechs Jahren mit wechselnder Besetzung auf der Bühne. Fleißig gibt es seit 2009 jährlich einen Silberling mit brandneuen Songs und gefühlvollen Coverversionen besonders berührender Stücke. Im Rahmen der „Darkness kills“-Tour, die zusammen mit der Gothic-Industrial-Formation Unzucht zum Jahresbeginn 2013 stattgefunden hat, wurde das Konzert in der Heimat mitgeschnitten. St. Pauli ist nicht nur der bekannteste Stadtteil der Hansestadt, es ist gleichzeitig die Heimat der Goth-Rocker. Daher fiel die Entscheidung – neben technischen Details und organisatorischen Gründen – bewusst auf diesen Ort. Am Samstag, den 9. Februar traten Lord of the Lost im Knust Hamburg als Hauptact auf und begeisterten zahlreiche Anwesende mit einer tollen und mitreißenden Show. Der Mitschnitt beginnt mit einem langen und vielleicht etwas zähem Intro – man wartet voller Spannung auf die ersten Töne, die endlich kommen und den Auftritt beginnen lassen. „Shut up when you’re talking to me“ ist ein Paradoxon, das die Hörer bereits auf dem Album Die tomorrow begeistert hat. Vielleicht weil es für viele ein endlich verbalisierter Wunsch ist. „Heart for Sale“ vom gleichen Longplayer begeistert auch, vor allem durch den mitreißenden Rhythmus.
Natürlich darf auf keinem Konzert „Sex on Legs“ fehlen. Ein Song, der vor allem durch ein laszives Video Aufmerksamkeit erregt hatte und von den Fans ersehnt wird. Hier fällt nicht selten das ein oder andere Kleidungsstück und auch auf der Bühne kann es passieren, dass Class seine exzellent definierten Bauchmuskeln präsentiert und Chris sich eines Teils seines Oberteils entledigt. Schön ist hier der Chor aus Fanstimmen, die „Sex, Sex, Sex“ deklamieren. Ein Ritual, das nicht jedem gefällt, aber vom Gros geliebt wird und daher auf jeden Fall gespielt werden muss.
„Seid ihr bereit, so richtig durchzudrehen?“ brüllt Harms, und natürlich sind die Anwesenden das, denn man weiß bereits nach den ersten paar Takten, dass gleich eine viel eindringlichere Aufforderung gesungen werden wird. „Tell me about your dreams, we can make them memories!” Manch einer hat sich diese Zeilen auf die Haut tätowieren lassen, manch einer wüncht sich nur die Erfüllung der eigenen Träume. Harms spricht mit dem Song „Undead or alive“ an und weiß genau, welche Sehnsüchte er damit tief aus dem Inneren der Zuschauer lockt.
Das brachiale Intro von „Prologue“ hat sicherlich einmal mehr zu einer headbangenden Meute geführt. Hier wird die harte Seite von Lord of the Lost gezeigt und Chris brüllt wieder einmal richtig ins Mikro.Genau das ist der Punkt. Jeder, der die Band kennt, weiß, dass die Fünf alles geben, wenn sie auf der Bühne stehen. Hier verlieren sie sich in der Musik, in ihren Träumen vom Rockstarleben, in der Situation, der überkochenden Stimmung und der Konzentration auf ihren Job, auf die Noten, die Instrumente und die Performance. Ein Konzert von ihnen zieht mit, berührt, macht Skeptiker zu Freunden. Selbstverständlich klingen manche Songs anders als die Albumversion, das liegt in der Natur der Sache. Aber warum klingt Goldkehlchen Harms, als würde er hauptsächlich brüllen, um einen tosenden Sturm überschreien zu wollen? Wo ist die Feinheit seiner Stimme, wo sind die liebevollen Höhen und Tiefen? Wollte er sich absichtlich anstrengen, weil das Konzert mitgeschnitten wurde? Liegt es an der Aufnahme? „Black Lolita“ ist ein weiterer Beweis dafür, und ein bisschen enttäuscht das recht einheitliche Geschrei des Sängers, der so viel mehr kann und hier wie der harte, lieblose Rocker rüberkommt, der nicht ganz so viel auf dem Kasten hat. Sehr schade, aber verzeihbar. Warum? Weil es live immer etwas anders ist, weil eine lange Tour und anstrengende Tage hinter der Band lagen, weil … weil es trotzdem gefällt! Auch das muss man Harms und seinen Mannen zugestehen: Sie wollen alles geben und sie powern absolut rein. Disco trommelt einen Marsch schweißtreibend auf dem Drumset bei „Marching into Sunset“, Grenayde greift die harten Saiten eines Basses und bringt die nötige Tiefe, Six streichelt und quält seine Gitarre enthusiastisch und Dirge jagt zwischen Keyboard, Percussion, Gitarre und Mikro hin und her. Sie geben definitiv alles und reißen das Publikum mit, ziehen es in die Musik hinein, schütteln es durch und begeistern.Dafür ist „Prison“ dann wirklich sanft gesungen und es sorgt für Gänsehaut, dass das Publikum einen Part alleine singen darf. Rhythmisch geklatscht wird dafür beim folgenden „Break your Heart“ und auch bei „Dry the Rain“, einem weiteren Klassiker, der niemals fehlen darf. Immer wieder Jubel, Applaus und Schreie. Es klingt als wären Tausende dabei gewesen und hätten mit den Jungs gefeiert. Auch die Ansagen von Chris sorgen für Amüsement und beim Hören erlebt man die Konzerte der „Darkness Kills“-Tour noch einmal und sieht bei „Blood for Blood“ einen singenden und endlich auch mal im Vordergrund stehenden Gared vor dem inneren Auge. „Die Tomorrow“, Titelsong des letzten Albums, treibt das Publikum noch einmal richtig an, man kann hören, wie die Anwesenden mitsingen, mitklatschen und richtig den Song genießen. Es ist der Schlussauftakt, das letzte Aufwärmen vor dem Ende, vor der Hymne, vor dem „Credo“. Ein Song, der den Fans gewidmet wurde, Dank und Bekenntnis gleichermaßen darstellt und mittlerweile auf jedem Konzert der Gänsehautgarant ist. Ein Meer aus Händen erstreckt sich vor der Bühne, eine mitsingende Gemeinde, die sich dazu bekennt, dem „Lord“ und seiner Mannschaft die Herzen geschenkt zu haben. Harms hat für den Text sogar die Heilige Schrift bemüht und 1. Korinther 13 zitiert.
Mit Jubel endet die Liveaufnahme, wie sich das gehört.Leider ist der Mitschnitt nicht in der allerbesten Qualität, aber doch so gut, dass man den Kauf nicht bereuen muss. Andererseits kann man dadurch viel besser das Publikum und deren ausgelassene Stimmung hören, was bei einem Live-Album durchaus seine Berechtigung hat.

Wer sich eine der Deluxe-Editions gekauft hat, kann sich teilweise noch über einen Kalender mit Livebildern von Mandy Privenau freuen. Zusätzlich aber auch über eine weitere CD, die eine Studioversion von „Credo“ enthält. Außerdem noch drei neue Songs, von denen man bereits vor einigen Wochen kurze Ausschnitte hören konnte. „Zillah“, ein brutaler Sound, der vielleicht eine weitere Richtung andeutet, in die Lord of the Lost gehen möchten. Die Band hat sich bisher mit jedem Album neu erfunden, und da das vierte Album bereits für Anfang 2014 angekündigt wurde und die Songs auch schon stehen, ist „Zillah“ (hebr. für Schatten) vielleicht auch der erste Hinweis auf die Neuerungen. Es würde ein brachialer Sound werden, der mit guten Growls und ausgiebigem Shouting in eine leise Death-Metal-Richtung geht. Sollte dies der Fall sein, werden Lord of the Lost rasch neue Fans für sich gewinnen können.
„Love in a Time of War“ ist dafür wieder eines der ruhigen, leisen, leidenden Stücke, die durch Streichinstrument und Piano einen unendlich traurigen und tragischen Touch bekommen. Ein tolles Stück, das einige wieder einmal zu Tränen rühren dürfte – und live für ein Meer aus Feuerzeugen sorgen wird – aber es ist ein Live-Song, der einfach so zu einem wildem Rock-Konzert passt. Der orchestrale Klang mit der leidenden Stimme von Harms erinnert mehr an Kriegsfilme und an die brutale Realität der Nachrichten, wo potenzschwache Machthaber das Volk abschlachten – und aus den rauchenden Ruinen und Trümmern des Lebens eine zarte Pflanze namens Liebe entsteht. Hinzu kommt ein leichtes Knistern, das an die gute, alte Schallplatte erinnert, an die Nebengeräusche des Lebens …
Düster ist dann der dritte Neuling, „Liberty in Death“. Hier unterstützt Nina Diers mit gutem, weiblichem Gesang, der dann natürlich die alte Leier von Ähnlichkeit zu Nightwish und Within Temptation auf den Plan ruft. Dennoch ein kraftvoller Song. Vielleicht muss man die drei Lieder auch als eine Einheit, eine kleine musikalische Geschichte betrachten – doch das soll der Hörer selbst herausfinden.

We give our hearts ist ein gelungenes Live-Album, das zwar mit einiger soundtechnischer Schwäche das Hörvergnügen etwas trübt, dafür aber das Konzertfeeling gut übertragen kann. Harms wirkt leider etwas zu „brüllig“, macht dadurch aber nur deutlich, dass er alles gibt. Die Bonus-CD reißt den Silberling komplett raus, und die drei neuen Songs sind einfach top!

Ich würde gerne zwei Bewertungen vergeben: Das Live-Album selbst kriegt einen Moscher Abzug, dafür bekommt die Bonus-CD volle fünf Moscher.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2:

Anspieltipp Livealbum: Blood for Blood
Anspieltipp Bonus-CD: komplett anhören!


Lord of the Lost – We give our hearts – Live auf St. Pauli
Out of Line, 2013
12,99 € Kaufen
18,99 € (Deluxe Edition) Kaufen

Tracklist:
1. Shut up when you’re talking to me
2. Heart for Sale
3. Sex on Legs
4. Undead or Alive
5. Prologue
6. Black Lolita
7. Marching into Sunset
8. Prison
9. Break your Heart
10. Dry the Rain
11. Blood for Blood
12. Die Tomorrow
13. Credo
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Bonus-CD:
1. Credo
2. Zillah
3. Love in a Time of War
4. Liberty in Death

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