I love not man the less but nature more

nightwish-human-nature-coverGroße Dinge tun sich bei Nightwish, den finnischen Symphonic-Metal-Künstler*innen, denn für den 10. April ist das neue Album Human.:II:Nature. bei Nuclear Blast angekündigt. Fünf Jahre sind seit dem letzten regulären Album Endless forms most beautiful vergangen, das schon eine Nightwish-typische Wundertüte an Komplexität und Kreativität war und auf der ganzen Welt einschlug; unter anderem war es Nummer Eins der Albumcharts in Finnland und Tschechien und Nummer Zwei in Deutschland. Die dazugehörige Welttour war ebenfalls ein Triumphzug, woraus auch das Buch „We were here“ von Timo Isoaho entstanden ist (die deutsche Fassung ist in der Übersetzung von Tina Solda bei Edition Roter Drache erschienen und kann hier bestellt werden). Danach brachte die Band das Decades-Doppelalbum heraus, eine Best-of-Scheibe mit remasterten Versionen der größten Hits. Auch hier folgte eine Welttournee, das Konzert in Buenos Aires wurde auf der dazugehörigen Decades-DVD/Blu-ray verewigt. Ganz auf dem Trockenen saßen die geneigten Fans also nicht, doch jetzt ist es Zeit für brandneues Material. Schwarzes Bayern hatte die Gelegenheit, am 19. Februar bei einer Listening Session in einem Münchner Hotel das Album anzuhören und sich danach auch noch ein bisschen mit Sängerin Floor Jansen über das soeben Gehörte zu unterhalten.
20200219_113125Die Listening-Session ist hervorragend organisiert, diverse Journalist*innen treffen sich in einer gemütlichen und sehr plüschigen Hotellobby, bekommen von unserer supernetten Kontaktfrau Kopfhörer, mp3-Player und ein Blatt mit der Albumtracklist und Platz für Notizen und verteilen sich im Raum. Ein schönes Bild: Überall lümmeln gemütlich Menschen mit großen Micky-Maus-Kopfhörern herum, die andächtig dem neuen Material lauschen und sich aufmerksam ihre Eindrücke notieren. Und es gibt – zumindest für mich – sehr viel zu notieren, denn so viel sei gesagt: Auch Human.:II:Nature. ist wieder eine musikalische Wundertüte und mit einem Hördurchgang auf keinen Fall zu erfassen. Das Album hat zwei Teile, eine „reguläre“ CD sowie den letzten Track in acht Teilen auf der zweiten Scheibe. Zusammen kommt man so auf eine Spielzeit von über achtzig Minuten, was eine Menge Konzentration erfordert. Auch das Cover in Gold und Schwarz mit Keilschriftsymbolen macht – zusammen mit der eigentümlichen Schreibweise des Albumtitels – sehr neugierig. Wie weit werden uns Tuomas Holopainen, Floor Jansen, Emppu Vuorinen, Marko Hietala, Troy Donockley und Kai Hahto in die Geschichte der Menschheit zurückführen? Doch widmen wir uns erst einmal der Musik.

1. Music
Ganz urtümlich fängt der erste Track „Music“ an, führt uns mit Rasseln und Tribaltrommeln langsam aus den Urtiefen der Geschichte in die Gegenwart. Erhaben ist der instrumentale Anfang, steigert sich mit Flöten, Chören und Keyboardteppichen, bis Floors Gesang einsetzt – lieblich und trotzdem abenteuerlich, denn die Melodieführung ist atemberaubend, hier muss jede Note sitzen – und tut es natürlich. „Enter music, mystery, endless symphony of now“, singt Floor in diesem Song, der sich nach langer Hinführung schließlich noch in einen schmissigen Rocker verwandelt, mit typischem Nightwish-Bombast und großem Finale. Und Floor kann ihre Opernstimme einsetzen! Ein hervorragend aufgebauter Einstieg ins Album.

2. Noise
Der zweite Track „Noise“ ist schon seit einiger Zeit bekannt, das dazugehörige Video (in einem Studio in Helsinki gedreht) zeigt anschaulich, von wie viel Lärm und oberflächlichen Ablenkungen wir im täglichen Leben mittlerweile umgeben sind und wie schwer es oft fällig, uns davon zu lösen. Mich lenkt zum Glück gerade nichts von dem Song ab, bei dem Floor nach dem aggressiv-bombastischen Einstieg sehr schön rockig singt. Die schnelleren, atmosphärischen Parts sowie Emppus schöne Bratgitarre zusammen mit mächtig Orchester prädestinieren „Noise“ schon mal für anstehenden Konzerte der Welttournee. Auch den einen oder anderen Nackenmuskel kann man dabei trainieren, manche Passagen erinnern an die ganzen alten, hyperschnellen Nightwish – eine schöne Reminiszenz an die Bandgeschichte. Verzerrte Vocals sorgen für einen Schuss Modernität. Nightwish zeigen sich hier passend zum Songthema härter und aggressiver und werfen die Hörer*innen mit einem abrupten Ende aus dem Song. 

3. Shoemaker
Ganz anders dagegen klingt „Shoemaker“, als nach einem Hackbrett-artigen Einstieg Floors Gesang mit folkigen, hochkomplexen Melodien, die sich aber trotzdem sofort im Kopf einnisten, einsetzt. Dann wird es ziemlich wuchtig, der Song ist eine schöne Mischung aus Doublebass und Folk-Fairytale-Atmosphäre. Und Troy leistet Floor beim Gesang Gesellschaft, was er gern öfter machen darf, das klingt wirklich wunderschön. Ein sehr vielschichtiger, spannender Song, bei dem die Nightwish-typischen Stimmen Texte sprechen, Streicher alles untermalen und Floor zum Heulen schön ihrer Opernstimme in schwebende Höhen schrauben darf.

4. Harvest
Mein Wunsch nach mehr Troy am Mikro geht prompt in Erfüllung, er zeigt hier in jeder musikalischen Hinsicht, was er kann. Ein etwas einfacherer, eingängigerer Song mit den bandtypischen Celtic-Folk-Anklängen, der nach den komplexen ersten drei Tracks eine gute Verschnaufpause bietet. Hier wird die Erde besungen, die Natur. Nach den folkig-mystischen Anfängen wird es noch ein wenig rockiger und härter, ohne den Folk-Anteil zu vernachlässigen. Hier darf man sich fortreißen lassen, träumen, glücklich sein.
Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Höreindrücke ist bereits ein Lyric-Video zu dem Song veröffentlich – und der Text lohnt sich! Schaut rein: 

5. Pan
Nach diesem zarten Intermezzo darf es bei „Pan“ wieder bombastischer werden, hier werden gleich am Anfang die Nackenmuskeln in Alarmbereitschaft versetzt. Floor singt zart und betörend, dann setzen wuchtige Drums und Bratgitarren ein, alles abgerundet von einer gewissen verträumten Zirkus-Jahrmarkt-Atmosphäre – eine sichere Live-Bank! Man sieht bei Doublebass-Drums, Gitarrenriffs und den Chören geradezu die Pyros und die ganzen Lichter auf der Bühne. Hier bin ich auf den Text im CD-Booklet gespannt, um ihn in Ruhe nachlesen zu können. Pan ist der Junge, der nicht erwachsen werden wollte – ob daher die Jahrmarktatmosphäre kommt? Wie auch immer, der Song reißt mit, und alle Musiker*innen liefern großartige Leistungen.

6. How’s the heart?
Ein bisschen eingängiger wird es bei „How’s the heart“, Troys Uillean Pipes am Anfang gehen in angenehmes Midtempo über. Floor singt einfühlsam und eindringlich, der Song klingt beim ersten Hören etwas einfacher als das bisherige Material, doch hier steckt garantiert der Teufel im Detail – gerade beim Gesang, der sehr in den Vordergrund gestellt ist. Auch hier lohnt ein Blick auf den Text, ich merke mir nach diesem ersten Durchgang die Zeile „How’s the heart underneath the silence“ – ja, wie geht es dem Herz hinter dem Schweigen? Ein toller Song, der garantiert mit jedem Hören noch mehr wächst.

7. Procession
„Procession“ muss man sich definitiv erarbeiten, das wird nach einem Hördurchgang klar. Auf den ersten Blick wirkt alles eingängig und vertraut – Keyboard, Floors lieblicher Gesang, alles im angenehmen Midtempo –, doch dann merkt man, wie vielschichtig und voller Emotionen der Song aufgebaut ist. „We’ve been here, we remember all the suffering“ – ich sehne mich wieder nach dem Textheft, um alle Facetten des Tracks auf mich wirken zu lassen.

8. Tribal
Dieser Track macht seinem Namen alle Ehre, die Motive vom Anfang des Albums werden wieder aufgenommen – erhabener Beginn mit Trommeln, Floors Gesang … Doch dann wird es schnell metallisch, Floor singt schön dreckig, die Gitarre sägt, ein richtig cooles Metalbrett wird hier serviert, das steht Nightwish sehr gut. Männlicher Tribalgesang im Hintergrund sowie leicht orientalisch anmutende Melodien runden den Song ab. Und wer Floors extrem variable Stimme ebenso sehr liebt wie ich – hier zeigt sie ganz, ganz viel von ihrem Können!

9. Endlessness
Wie schön – Marko hat auch „seinen“ Song! Sonst hat er ja auch immer hervorragende, markante Vocals beigesteuert, hier lässt er seine Stimme ungewohnt weich klingen, und davon ist man sofort gefesselt. Der musikalische Hauptteil ist beim ersten Hören allerdings noch ein wenig zäh, kommt noch nicht so richtig in die Pötte, aber auch hier gilt: öfter anhören, die verschiedenen Schichten des Songs entdecken und sich vom Orchesterteil des Tracks umblasen lassen, der mit ordentlich Gitarre und Drums alle etwas arg betulichen Momente voll und ganz wettmacht. Am Ende teilen Floor und Marko sich den Gesang, letztendlich ist das alles dann doch ein wirklich schöner Albumausklang.

Eigentlich wäre jetzt eine Pause gut, um die vielen Details und Eindrücke aus der ersten Albumhälfte ein wenig sacken zu lassen, doch so viel Zeit haben wir leider nicht, darum geht es rasch weiter mit Teil II – den ich dann auch ein bisschen straffer durchhören muss als gewollt und mir dadurch weniger dazu notieren kann. Sorry!

1. All the works of nature which adorn the world – Vista
In geschliffenem Englisch wird ein Text rezitiert („I love not man the less but nature more“), langsame Streicher bauen eine Atmosphäre auf, bei der man sofort eine idyllische englische Landschaft vor Augen hat. Floor setzt spät mit ein und singt extrazart mit dem Orchester.

2. All the works of nature which adorn the world – The blue
Auch hier dominieren die Instrumentalparts, tiefe Streicher und Trommeln treffen auf Elfengesang, schließlich setzt das gesamte Orchester ein, Operngesang schwebt in den (blauen) Himmel.

3. All the works of nature which adorn the world – The green
Hier hat man den Songtitel sofort vor Augen, liebliche Klaviertöne lassen den Song zusammen mit Harfe und Querflöte sehr pastoral und ländlich wirken.

4. All the works of nature which adorn the world – Moors
Nach einem elegischen Einstieg eröffnen sich den Hörer*innen tatsächlich moorige Weiten, dank Harfe und Pipes fühlt man sich sofort nach Schottland oder in ähnliche Landschaften versetzt.

5. All the works of nature which adorn the world – Aurorae
Hier zucken auch musikalisch die verzaubernden Nordlichter über den Himmel beziehungsweise durch die Kopfhörer, das volle Bombastprogramm mit Orchester und Bläsern wird hier aufgefahren, genau so stellt man sich die Übertragung dieses stillen Naturschauspiels in Tönen vor.

6. All the works of nature which adorn the world – Quiet as the snow
Auch dieses Motiv wird exzellent umgesetzt – der Song ist wirklich sehr, sehr ruhig, mit Klaviertönen und ganz langsamen Einstieg, Flüsterstimmen und wenig mehr. Jetzt fehlt nur noch der Schnee beim Blick aus dem Fenster, aber man fühlt sich auch so an einen leisen Ort in der Natur versetzt. Die erste große Albumpräsentation haben Nightwish ja im finnischen Lappland veranstaltet, im tief verschneiten Winter, und da passt der Track natürlich perfekt.

7. All the works of nature which adorn the world – Anthropocene (incl. „Hurrian hymn to Nikkal“)
Die erste Frage, die sich stellt, ist: Wer zum Teufel ist Nikkal? Beim Hören des dramatischen und trotzdem melancholisch-schönen Songs (hier hört man die lange Reise durch die Geschichte der Menschheit) weiß ich das nicht, ich will auch nicht nebenher googlen, doch im Nachhinein habe ich natürlich recherchiert. Nikkal ist eine ugarithische Göttin, nämlich die Göttin der Obstgärten. Ihr wurde eine hurritische Hymne gewidmet – also eine der ältesten musikalischen Notationen einer Melodie (sagt Wikipedia). Die meisten dieser Überlieferungen sind bruchstückhaft, die Hymne an Nikkal allerdings ganz erhalten und wurde auch schon öfters vertont. Mit diesem Hintergrund freue ich mich noch mehr, das Album selbst bald in Händen zu halten und diesen Track noch mal ganz in Ruhe auf mich wirken zu lassen.

8. All the works of nature which adorn the world – Ad astra
„Zu den Sternen“ heißt der Titelzusatz übersetzt, musikalisch wird das mit einer lieblichen Mittelalter-Renaissance-Anmutung umgesetzt, Klavier und Sprechstimmen leiten auf Floors Gesang und einen flotten Abschluss „zu den Sternen“ hin.
Nightwish kooperieren seit Neuestem mit dem World Land Trust, einem internationalen Trust zur Bewahrung gefährdeter Wälder und geschützter Gebiete, in enger Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung. Dazu wurde am 11.03.20 auch ein Video zu „Ad astra“ veröffentlicht.

Was ist jetzt das Fazit nach über achtzig Minuten Nightwish hochkonzentriert und ohne Ablenkung auf die Ohren? Wow! Im Vergleich zu Endless forms most beautiful hat Tuomas hier an Virtuosität und Detailvielfalt noch mal eine Schippe draufgelegt. Das Album erfordert definitiv mehrere Durchgänge und einen aufmerksamen Blick ins Textheft, um wirklich alles zu erfassen. Selbst die auf den ersten Blick eingängigeren Songs sind vielschichtiger, als man zuerst glaubt. Prinzipiell wird die bekannte Mischung aus Opulenz, Metal, kompositorischem Wahnsinn (und das ist überaus positiv gemeint) und trotzdem fiesen Ohrwürmern auch auf Human.:II:Nature. fortgesetzt. Wer bisher Nightwish-Fan war, wird es in den allermeisten Fällen auch hier bleiben. Es ist schön, dass den Vocals auf diesem Album so viel Raum zum Strahlen gegeben wird, Floor kann sehr variabel ihr Können einsetzen, und dass Troy und Marko eigene Songs haben, ist eine tolle Weiterentwicklung.

Wem Nightwish bisher zu verschroben-kitschig-unmetallisch war, wird sich auch in diesem Album nicht wiederfinden. Alle anderen werden große Freude daran haben und dürfen auf die Präsentation des Albums auf der anstehenden Welttournee gespannt sein.

Hier geht’s zum Interview mit Floor Jansen

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Tracklist:

CD1
1. Music
2. Noise
3. Shoemaker
4. Harvest
5. Pan
6. How’s the heart?
7. Procession
8. Tribal
9. Endlessness

CD2:
1. All the works of nature which adorn the world – Vista
2. All the works of nature which adorn the world – The blue
3. All the works of nature which adorn the world – The green
4. All the works of nature which adorn the world – Moors
5. All the works of nature which adorn the world – Aurorae
6. All the works of nature which adorn the world – Quiet as the snow
7. All the works of nature which adorn the world – Anthropocene (incl. „Hurrian hymn to Nikkal“)
8. All the works of nature which adorn the world – Ad astra

Und wo bekommt ihr Human.:II:Nature. ?

Das Album erscheint als: 2CD, 2CD-Digi, 3LP (verschiedene Farben), Earbook, Boxset, Digital. Alle Formate sowie neues Merch im Vorverkauf gibt es im bandeigenen Shop unter: Shop  Mit jeder Vorabbestellung nehmt ihr auch an einer Verlosung teil und könnt ganz besondere Goodies gewinnen!
Bei der Plattenfirma Nuclear Blast gibt es das Album natürlich auch: Shop 

Die Preise variieren je nach Anbieter. 

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