Die Toten wollen wieder alleine sein

SLIME_wem_gehört_die_Angst

Die Hamburger Punk-Band Slime ist seit 1979 aktiv und gehört damit gleichzeitig zu den ersten und dienstältesten unter den deutschen Punk-Kapellen. Naturgemäß hat die Band einige Höhen und Tiefen durchlebt, es gab Streitereien und Musikerwechsel, auch zweier Bandauflösungen zum Trotz sind Slime im Jahre 2020 noch immer da. Slime, das sind die drei Urgesteine Michael „Elf“ Mayer, Christian Mevs (beide Gitarre) und Sänger Dirk „Dicken“ Jora sowie Bassistin Nici und Schlagzeuger Alex Schwers, die auch schon seit 2010 an Bord sind. Auch im fernen München stellen sie immer wieder ihre Live-Qualitäten unter Beweis, ob akustisch mit reduzierter Besetzung (Lesung zu Deutschland muss sterben) oder mit der vollen Show (Link 28.10.2016). Anlass genug, um der Frage Wem gehört die Angst auf den Grund zu gehen.

Das Album beginnt fulminant mit dem Titelsong „Wem gehört die Angst“, den die Wirklichkeit längst eingeholt hat. Auch wenn er vor Corona-Zeiten entstanden ist, lässt er sich auf fast schon beängstigende Weise auch auf die aktuelle Krise beziehen. Slime melden sich eindrucksvoll zurück. Im etwas gemächlicheren folgenden „Paradies“ schweifen die Erinnerungen in die späten Siebziger, als alles anfing, und es lassen sich einige textliche Anspielungen an Ton Steine Scherben finden. „Und Rio Reiser sang vom Paradies“ bezieht sich auf „Der Traum ist aus“. Ist er es heute tatsächlich? Weiter geht der wilde Ritt durch die „Hölle“, mit dem man die Frage scheinbar selbst beantwortet. „Die Suchenden“ überrascht an dieser Stelle mit einem Ska-Rhythmus, der im Refrain zu einer Knaller-Line übergeht. Der Song ist vielfältig interpretierbar und passt auf Influencer, Verschwörungstheoretiker und rechte Phrasendrescher. Die Klimakrise geht auch nicht an Slime unbedarft vorbei. „Wenn wir wollen“ ist ein Weckruf, und das Szenario „Berlin hat jetzt ’n Strand“ macht den Hamburgern zu Recht Angst. Einmal mehr werde ich an Ton Steine Scherben („Wir müssen hier raus“) erinnert. Auch „Ebbe und Flut“ rockt auf hohem Niveau und liefert einen Refrain, der zum Mitsingen einlädt. Außerdem leistet sich die Gitarre gelungene spacige Ausflüge in die Siebziger.
Der Beginn von „Die Toten wollen wieder alleine sein“ klingt – beabsichtigt oder nicht – stark nach „Spirit of the Falklands “ von New Model Army, doch dann merkt man deutlich, dass hier Slime am Werk sind, dem Punkrock und Dickens Gesang sei Dank. Den Refrain muss man einfach laut mitsingen. Das kann man dann auch gleich beim folgenden „Weisser Abschaum“ machen. „Die Masse“ legt den Finger fachgerecht in die Wunde der Wutbürger und bereichert den Punkrock seitens der Gitarre um psychedelische Klänge. Tempomäßig wird in „Fette Jahre“ noch eine Schippe draufgelegt, und unwillkürlich frage ich mich, ob Corona dem Text zusätzliche Aktualität verleiht. Mit „Kein Mensch ist illegal“ folgt kurz vor Schluss noch einmal ein richtiger Hit, zu dessen Aussage man wohl nicht viel hinzufügen muss. „Odyssee“ nimmt sich hingegen etwas zurück und zeigt Slime von einer vergleichsweise eher ruhigeren Seite und wäre somit ein idealer Schlusssong gewesen. Denn der letzte Song „Solidarity“, der nicht etwa eine Coverversion von Angelic Upstarts ist, wie man erwarten könnte, wirkt auf mich ein wenig wie ein Fremdkörper, weil es ein Punk-Song stark englischer Prägung mit Folk-Einfluss ist. Das passt nicht recht zum Rest, auch wenn der Titel an sich stimmungsvoll ist. Aber so leid es mir tut das sagen zu müssen, Dicken klingt hier für mich sehr nach 5. Klasse Schülerenglisch. Es ist sicher Geschmackssache, aber für mich eher ein verzichtbarer Bonus-Song.

Davon abgesehen ist Wem gehört die Angst ein starkes und abwechslungsreiches Punkrock-Album, das auch bei wiederholtem Hören nicht langweilig wird. Wer geglaubt hat, dass Slime 41 Jahre nach der Bandgründung nichts mehr zu sagen hätten, sieht sich nun eines Besseren belehrt. Auch inhaltlich sind Slime voll auf der Höhe der Zeit und somit im Jahre 2020 noch immer relevant. Grüße an die Elbe aus dem „Frei“Staat Bayern!

Anspieltipps: Wem gehört die Angst, Die Toten wollen wieder alleine sein, Kein Mensch ist illegal
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

Slime: Wem gehört die Angst
Arising Empire, Vö. 13.03.2020
LP 17,99 €, CD 15,99 erhältlich über Nuclear Blast

Homepage: https://www.slime.de/
https://www.facebook.com/slimepunk
https://www.arising-empire.com/

Tracklist:
01 Wem gehört die Angst
02 Paradies
03 Hölle
04 Die Suchenden
05 Wenn wir wollen
06 Ebbe und Flut
07 Die Toten wollen wieder alleine sein
08 Weisser Abschaum
09 Die Masse
10 Fette Jahre
11 Kein Mensch ist illegal
12 Odyssee
13 Solidarity

(1653)