Thrash Metal auf dem nächsten Level

Testament-Titans-Of-Creation-ArtworkMuss man eine neue Testament-Scheibe überhaupt ausführlich besprechen? Reicht es nicht zu sagen: Ist wie immer geil geworden, kauft euch das Teil und freut euch auf die nächste Tour, die nicht lange auf sich warten lassen wird! Klar, man könnte es sich einfach und dabei auch nichts falsch machen, denn dass Testament mittelprächtige Arbeit abliefern, ist sowieso unmöglich. Die Band macht es sich ja aber auch nicht leicht, sondern präsentiert alle paar Jahre wahre Schmuckstücke an ausgefeilten Thrash-Alben, die textlich und musikalisch immer wieder neue Maßstäbe setzen. Mit ihrem dreizehnten Longplayer Titans of creation wird das sicher nicht anders sein, weshalb ich mich gern auf Entdeckungsreise begebe. Einen kleinen Vorgeschmack gab es auf der jüngsten, phänomenalen Tour mit Exodus und Death Angel zu hören, und das klang schon sehr vielversprechend. (Hier der Bericht dazu.) Alle drei Bands plus der Tourtross hatten übrigens nach ihrer Rückkehr in die Staaten mit teilweise lebensgefährlichen Corona-Erkrankungen zu kämpfen, die Erkrankten sind aber alle glücklicherweise wieder gesund oder auf dem Weg der Besserung.

Wie nicht anders zu erwarten, fühlt man sich schon bei den ersten Riffs von „Children of the next level“ wie zu Hause in dieser Platte, doch der Song bietet – neben aberwitzigen Soli von Gitarrenhexer Alex Skolnick – immer noch genug Feinheiten, die die sechs Minuten Spiellänge spannend und intensiv machen. „WW III“ bedient die Oldschool-Thrash-Fans mit seinem hektischen Grundrhythmus und dem kompromisslosen Geknüppel. Chuck singt hier extra aggressiv – wer also ein bisschen „alte“ Testament möchte, darf hier hinhören. Ich finde allerdings den deutlichen Hardrock-Einschlag bei „Dream deceiver“ noch ein bisschen spannender, weil er so völlig unerwartet kommt. Natürlich wird nicht per se an Härte gespart, aber der Refrain ist schon sehr melodiös und die Mischung dadurch umso großartiger. Großes Mitgrölpotenzial und hoffentlich ein Kandidat fürs Liveprogramm! Schon auf der Bühne erprobt ist „Night of the witch“, der Albumvorgeschmack auf der jüngsten Tour, und hier geht man mit kompromissloser Härte auf Nummer Sicher – überrascht aber gleichzeitig mit zusätzlichen Vocals von Eric Peterson! Hier gibt die Band geschlossen Gas, nur kleinere Breaks bieten Verschnaufpausen, bis hin zum wimmernden Theremin-Ausklang. Perfekt, um mal wieder ordentlich Volumen in die Haare zu schütteln.
„City of angels“ ist die nächste kleine Überraschung auf dem Album, mit seinen ruhigen Klargesangpassagen und dem sehr zurückgenommenen, aber trotzdem mächtigen Groove und natürlich sensationeller Gitarrenarbeit. Nichts zum Abschädeln, sondern zum aufmerksamen Zuhören. Schön gemacht! Innovativ geht’s gleich weiter mit „Ishtars gate“ und den sehr rockigen Einleitungsriffen. Chuck experimentiert wieder mit seiner Stimme, und auch bei den Melodien und der Rhythmik geht man weg vom klassischen Thrash Metal – bleibt aber natürlich hundertprozentig Testament. Alex Skolnick und Eric Peterson zeigen hier erneut ihre Weltklasse an der Gitarre, und zwischendrin klingt’s dann, hoppla, ein bisschen nach den Bandanfängen in den Achtzigern – wären da nicht die zarten orientalischen Einsprengsel hier und da. „Symptoms“ präsentiert sich unerwartet sperrig und setzt auf frickeliges Midtempo mit Mitbrüllrefrain. Kein Wunder, zeichnet sich doch Alex Skolnick fürs Songwriting verantwortlich. Bevor einem aber der Kopf schwirrt, verpasst einem „False prophets“ eine schöne Thrash-Watschn und rückt alles wieder gerade, hier dürfen Puristen unbesorgt die Regler auf elf drehen. „The healer“ zeigt erneut die moderne Seite von Testament, mit groovigen Riffs, gelegentlichen Blast-Attacken von Drumtier Gene Hoglan und kraftvollem Gesang von Chuck. Steve DiGiorgio leitet „Code of Hammurabi“ mit schönen Bassläufen ein, bevor ordentlich Druck gemacht wird und Chuck shoutet „eye for an eye – this is the code that I speak“. Simpel ist dieser Song aber ganz und gar nicht – wieder sei hier auf die herausragende Gitarrenarbeit verwiesen. Noch rasanter geht’s mit dem dritten (titelmäßigen) Ausflug in frühzeitliche Kulturen weiter, „Curse of Osiris“ knüppelt gnadenlos, Chuck mischt sogar ein bisschen Black-Metal-Kreischen unter. Kurz, knackig, gut. Noch kürzer und knackiger, dafür aber sehr viel erhabener schließt das Instrumental „Catacombs“ mit Chören und Streichern das Album ab. Ist das jetzt selbstironisch, gewollt kitschig, cool oder unnötig? Dazu habe ich mir noch keine endgültige Meinung gebildet.

Titans of creation ist mit einer knappen Stunde Spielzeit ein ordentlicher Brocken geworden, den man sich erst einmal erarbeiten muss. Thrash-untypisch lang, könnte man auch sagen, aber um den Bogen zur Einleitung zu spannen: Testament machen es sich nicht leicht, und deswegen ist die lange Spielzeit auch völlig berechtigt. Die Band schafft es, sich treu zu bleiben, sich aber trotz ihrer langen Karriere nicht zu wiederholen. Natürlich bleiben manche Stilelemente, man soll ja auch sofort hören, dass hier Testament am Werk sind, doch enthält das Album genügend Überraschungen und frischen Wind im Songwriting, um aufhorchen zu lassen. Der Pressetext von Nuclear Blast liefert auch ein paar inhaltliche Hintergründe zu den Songs, die das Ganze noch mal interessanter machen (und weshalb man sich definitiv einen Tonträger mit enthaltenen Lyrics kaufen sollte). So handelt „The healers“ zum Beispiel von Chucks persönlichen Erfahrungen mit Medizinmännern – er selbst gehört ja zum Stamm der Pomo -, oder „Symptoms“ hat alle Arten von psychischen Erkrankungen wie Depressionen zum Thema und wie weit verbreitet diese sind. Aber auch „normale“ Metalthemen werden verarbeitet, wie zum Beispiel der Horrorfilm The VVitch: A New England Folktale in „Night of the witch“.
Besonderes Augenmerk darf man auch auf die ausgezeichnete Coverarbeit von Eliran Kantor legen: drei Titanen, die DNA und noch viele weitere Details.

Testaments dreizehntes Album ist ein echter Meilenstein des Genres geworden, durch die vielen überraschenden Details aber auch einfach ein fantastisches Metalalbum. Hoffen wir, dass die alten Haudegen die Songs auch irgendwann wieder live präsentieren dürfen. Bis dahin hören wir fleißig die Konserve.

Anspieltipps: Dream deceiver, Night of the witch, The healers

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Testament: Titans of creation
Nuclear Blast, 03.04.2020
Länge: 58:34min
Kaufen: z. B. für € 15,99 bei Nuclear Blast

Tracklist:
1. Children of the next level
2. WW III
3. Dream deceiver
4. Night of the witch
5. City of angels
6. Ishtars gate
7. Symptoms
8. False prophets
9. The healers
10. Code of Hammurabi
11. Curse of Osiris
12. Catacombs

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