Ein asoziales Experiment

the-toten-crackhuren-im-kofferraum-bitchlifecrisis-700x700Mit dem langersehnten dritten Album Bitchlifecrisis waren The toten Crackhuren im Kofferraum erst kürzlich zu Gast im Münchener Backstage (Link zum Bericht), und nun möchte ich es näher vorstellen. Nach dem Debütalbum jung, talentlos und gecastet (2010) und dem Nachfolger Mama ich blute (2013) war es etwas still um die Crackhuren. Die Zeit wurde für andere Projekte genutzt, so z. B. für Lulu und die Einhornfarm, dem Punk-Nebenprojekt von Sängerin Luise „Lulu“ Fuckface. Des Weiteren singen Doreen K. Bieberface, Ilay Newman und Kristeenager, und die Jungs an den Instrumenten sind Thomas Echelmeyer am Bass, Schlagzeuger Daniel Reuschenbach und Gitarrist Mötley Chrü Funface.

Gleich zu Beginn von Bitchlifecrisis räumen die Crackhuren mit Gerüchten auf und stellen fest: „Wir sind keine Band (Wir sind ’ne Selbsthilfegruppe)“, und später im Text: „Wir sind ein asoziales Experiment!“ Ein äußerst gelungener selbstironischer Auftakt, der vom folgenden „Jobcenterfotzen“ noch getoppt wird. Minimaler Electro-Punk mit absolutem Hitpotential. Der Text mag etwas überzeichnet sein, birgt aber wahre Erfahrungen, die wohl von vielen Menschen geteilt werden dürften, ist der Besuch beim Jobcenter doch eher selten ein Spaßerlebnis. In „OK Ciao“ interpretieren TCHIK auf gelungene eigene Art die Offenbarung das Johannes. Oder, wenn das zu hochtrabend intellektuell klingt, sie besingen die Apokalypse, für die Pöbel MC einen Hip-Hop-Gastauftritt beisteuert. Das folgende „Behindert“ als Abrechnung eines Beziehungsendes empfinde ich dagegen als etwas schwach, wobei ich zugeben muss, dass der Song live durchaus eine ganz eigene Poesie entwickelt und an Intensität gewinnt. Dafür geht der Minimal-Rhythmus von „Minus 1“ aber sofort in die Beine und animiert zum Tanzen, perfekt untermalt durch den Sprechgesang. Den Refrain muss man einfach mitsingen. Prominente Unterstützung liefert hier Juse Ju mit einem Hip-Hop-Part. In „QVC gegen Geilheit“ wird sexuelle Frustration aus der eher ungewöhnlichen weiblichen Perspektive beleuchtet, gelten doch Männer im Allgemeinen als dauergeil. Gleichzeitig persiflieren TCHIK damit auf witzige Weise den generellen Porno-Konsum der heutigen Zeit und liefern einen Ohrwurm-Refrain zum mitsingen. „Crackhurensöhne“, in dem Donald Trump, Kim Jong-un und Xavier Naidoo quasi als Achse des Bösen ihr Fett weg bekommen, geht ebenso gut ins Ohr, denn New-Wave-mäßige Synthies untermalen den Track. In der zweiten Hälfte wird noch dazu richtig losgerockt, und die Band packt die Speedkeule aus, was gewaltig Spaß macht.
„Hämatom“ dagegen ist gar kein Spaß, da es häusliche Gewalt thematisiert. Konsequent ist der Song sperrig und experimentell umgesetzt. Kein Easy Listening, sondern es tut weh zuzuhören. Ob „Keine Liebe“ bewusst im Anschluss daran folgt, sei einmal dahingestellt, aber das Motto „solange es Freibier gibt, brauchen wir keine Liebe“ könnte gut dazu passen, ist aber auch so absolut Crackhuren-kompatibel und wirkt live in kleinen Clubs wie eine Stadionhymne zum Mitgröhlen. Die Instrumente von Thomas Echelmeyer und Mötley Chrü Funface hört man bei „Auf einem Bett aus Pizzaschachteln“ vielleicht am besten, das mit seiner Melancholie deutlichen Einfluss von Post Punk offenbart. Die Lyrics hingegen offenbaren einmal mehr den kaputten Humor der Crackhuren. Mit wummerndem Bass könnte „Ihr kriegt mich nicht“ eine Post-Eurodance-Nummer sein, aber das Schlagzeug von Daniel Reuschenbach wird nur minimal verstärkt eingesetzt, sodass es eher wie ein NDW-song klingt. Mit „Patschouli-Öl“ ist auch ein Song dabei, der Gothic-Herzen schneller schlagen lässt. Hier finden sich Anleihen an die Neue deutsche Todeskunst, aber natürlich kommt die den Crackhuren eigene typische Ironie auch hier nicht zu kurz, ebenso wie beim folgenden „Rumlaufen Stress machen“. Hier nehmen sie sich ebenso selbst auf die Schippe wie Nachwuchs-Möchtegern-Gangster, die ihren Idolen nacheifern wollen, denn auch auf diese kann man den Hip-Hop-lastigen Track übertragen. Rhythmischer Sprechgesang dominiert auch „Keine von uns ist krank“, das mögliche psychische Auswirkungen der Hauptstadt beschreibt, wobei der getragene Refrain im ersten Teil wieder der NDW entlehnt ist. Der zweite Teil erinnert mich eher an Ideal, die seinerzeit auch Berlin besungen haben.

Fazit: Der Albumtitel Bitchlifecrisis deutet es schon an: The toten Crackhuren im Kofferraum sind ein Stück weit erwachsen geworden. Während es früher noch hieß „kein Bock auf Schule“, hat man heute ganz andere Probleme, wenn man Teil dieser „Selbsthilfegruppe“ ist. „Jobcenterfotzen“ können ein Lied davon singen. Die jugendliche Unbeschwertheit der früheren Alben ist jetzt zwar nicht unbedingt passé, aber mancher Text wirkt auf mich etwas konstruiert („Behindert“). Trotzdem präsentieren sich TCHIK insgesamt höchst lebendig und sind „ein asoziales Experiment“, das wieder mit vielen tollen Songs jeden grauen Alltag bereichert. Electro-Punk mit Riot-Grrrl-Attitüde, in dem vielfältige Einflüsse verarbeItet werden, von 80er Jahre New Wave und NDW über Hip Hop bis hin zu Acts wie Peaches und vor allem Cobra Killer, mit denen sich The toten Crackhuren im Kofferraum insgesamt vielleicht am ehesten vergleichen lassen.

Anspieltips: Jobcenterfotzen, Minus 1, Crackhurensöhne
:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch2: plus Live-Bonus :cheer:

The toten Crackhuren im Kofferraum: Bitchlifecrisis
Destiny Records, Vö. 01.02.2019
CD 13,99 €, LP 17,99 €, Lim. Edition Box-Set 30,99 € erhältlich bei Original Product
Homepage: https://www.facebook.com/thetchik/
https://www.thetotencrackhurenimkofferraum.de/
https://www.destiny-tourbooking.com/

Tracklist:
Wir sind keine Band (Wir sind ’ne Selbsthilfegruppe)
Jobcenterfotzen
OK Ciao (feat. Pöbel MC)
Behindert
Minus 1 (feat. Juse Ju)
QVC gegen Geilheit
Crackhurensöhne
Hämatom
Keine Liebe
Auf einem Bett aus Pizzaschachteln
Ihr kriegt mich nicht
Patschouli-Öl
Rumlaufen Stress machen
Keine von uns ist krank

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