Die norwegischen Experimentalheroen haben wieder zugeschlagen
Ein neues Ulver-Album ist die kalorienarme, aber umso spannendere Version eines Überraschungseis – Spiel, Spaß, Spannung, Soundsphären und viel, viel Staunen bringt jede neue Veröffentlichung mit sich. Mittlerweile stehen Ulver schon längst nicht mehr für den Black Metal der frühen Tage (auch wenn der unbenommen immer noch sehr toll ist), sondern für sphärische, experimentelle Soundlandschaften (Perdition City), Filmsoundtracks (Lyckantropen Themes) und sogar Messen (I.X – VI.X). Nichts ist unmöglich im Universum der Norweger, und das macht sie so einzigartig. Mit dem aktuellen Werk ATGCLVLSSCAP (und das sagen wir jetzt alle fünfmal hintereinander auf …) ist ihnen wieder ein Geniestreich gelungen – obwohl das Album kein in dem Sinn neues Material enthält, ist es brandneue Musik.
Wie das? Im Februar 2014 hat die Band zwölf weitestgehend improvisierte Live-Shows gespielt (auch in München, und wir waren dabei! ), deren mitgeschnittenes Material Grundlage für weitere Bearbeitungen und Neuinterpretationen der bestehenden Songs war. Das Album ist also quasi eine doppelte Improvisation – erst durch die Liveaufnahmen, dann durch die Beschäftigung damit im Studio. Herausgekommen ist dabei ein durch und durch faszinierendes und sehr authentisches Ulver-Werk – denn diese Band muss man einmal live erlebt haben.
„England’s hidden“ läutet das Album im wahrsten Sinn des Wortes ein, langsam und eindringlich, und geht nahtlos in „Glammer Hammer“ über, das den Grundrhythmus zuerst leicht beschleunigt aufnimmt, um sich schließlich mit Trommeln und Gitarren wie ein träger Fluss unaufhaltsam ins Gehirn zu fräsen.
„Moody Stix“ schleicht sich zu Beginn lieblich wie ein lichtdurchfluteter Sommertag an, in dem nach und nach das Leben erwacht.
Das zehnminütige Monster „Cromagnosis“ nimmt ebenfalls den bisher vorherrschenden Grundrhythmus des Albums auf und variiert ihn im weiteren Verlauf virtuos, gibt verschiedenen Instrumenten (Trommeln, vielen Trommeln) Raum und dem Geist die Möglichkeit, in diesem vollkommen wahnsinnigen Stück abzutauchen.
„The Spirits that lend Strength are invisible“ bietet mit seinem Zeitlupenambient die erste kurze Verschnaufpause, bis es mit „Om Hanumate Namah“ wieder urtümlicher und erdverbundener wird, archaische Rhythmen und Gesänge tragen einen durch den Song bis in den nächsten Track, „Desert/Dawn“. Hier spürt man wirklich die Ruhe und Reduziertheit einer Wüste, die Weite, den Sonnenaufgang über den Dünen.
„D-Day Drone“ überzeugt als melancholische Ambientlandschaft, die ihre Fortsetzung im ähnlich aufgebauten „Gold Beach“ findet.
„Nowhere (Sweet Sixteen)“ überrascht den unkundigen Hörer zum ersten Mal auf diesem Album mit Gesang – eine Umarbeitung des vielleicht größten „Hits“ von Ulver, „Nowhere/Catastrophe“. Ich persönlich tue mich auch in dieser Fassung mit dem Song schwer, weil er mir zu eingängig ist, zu brav für Ulver-Verhältnisse. Es ist aber unbenommen ein sehr gut arrangiertes, stimmungsvolles Lied mit eindringlichen Vocals von Garm und somit unverzichtbar für dieses Album.
„Ecclesiastes (A vernal Catnap)“ zeichnet sich durch das auf Norwegisch gesprochene Intro aus sowie auch hier durch Garms klagenden, zu Herzen gehenden Gesang – aber mit weniger Kitsch als „Nowhere (Sweet Sixteen)“, sondern mehr Schmerz, Tiefe und Unendlichkeit.
Mit „Solaris“ klingt ATGCLVLSSCAP unerwartet ruhig, irgendwie versöhnlich aus – hier hätte ich noch mal ein großes Rhythmus- und Improvisationsfinale erwartet, doch die musikalische und emotionale Reise bis hierher war tatsächlich nicht ohne, sodass ein etwas besinnlicherer Ausklang vielleicht gar nicht schlecht ist.
Ungefähr achtzig Minuten dauert die CD, wie auch ein Konzert von Ulver, zwölf Songs aus zwölf Konzerten gibt es zu hören, die jedoch trotzdem wie eine Einheit wirken und die Quintessenz aus Ulvers Schaffen der letzten Jahre sowie dem Musikverständnis der Band bilden. Elektronische Klänge dominieren ATGCLVLSSCAP – übrigens die Anfangsbuchstaben der zwölf Tierkreiszeichen – und schaffen dennoch eine organische Wärme, die ihresgleichen sucht. Unbedingt anhören!
Anspieltipp: Alles von vorn bis hinten und dann gleich noch mal
Ulver – ATGCLVLSSCAP
House of Mythology
ET: 22.1.16
Länge: 80:10 Minuten
Kaufen: € 14,99 (z.B. Amazon)
Tracklist:
1.England’s hidden
2.Glammer Hammer
3.Moody Stix
4.Cromagnosis
5.The Spirits that lend Strength are invisible
6.Om Hanumate Namah
7.Desert/Dawn
8.D-Day Drone
9.Gold Beach
10.Nowhere (Sweet Sixteen)
11.Ecclesiastes (A Vernal Catnap)
12.Solaris
Aufgenommen wurden die Songs für ATGCLVLSSCAP übrigens bei den folgenden Shows:
07/08/13 – Blå – Oslo, Norwegen
01/02/14 – Savoy Teatteri, Helsinki, Finland
05/02/14 – B90, Gdansk, Polen
06/02/14 – Lido, Berlin, Deutschland
07/02/14 – Akropolis, Praha, Tschechische Republik
09/02/14 – Dynamo Grosser Saal, Zürich, Schweiz
10/02/14 – Szene, Wien, Österreich
11/02/14 – Backstage, München, Deutschland
12/02/14 – Werkstatt, Köln, Deutschland
13/02/14 – 013, Tilburg, Niederlande
15/02/14 – Bloom Mezzago, Mailand, Italien
16/02/14 – Circolo Degli Artisti, Rom, Italien
26/04/14 – Club Volta, Moskau, Russland
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