Deuteriumoxid (Schweres Wasser)

Manche Musik trägt so viel mit sich, dass man nach einigen Songs erst mal tief durchatmen muss. Bei Amanda Palmer geht mir das so, bei Kristin Hershs Veröffentlichungen mit 50 Foot Wave, und zunehmend auch bei Marie Landos Electro-Industrial-Projekt grabyourface. Gab es auf dem 2018 erschienenen Longplayer Keep me closer neben dem Tiefdunkel der Texte noch musikalische Kontra-/Lichtpunkte und Verschnaufpausen, eine (genretypische) Schönheit des Düsteren, fiel das folgende Summer on Saturn (2019) wesentlich kürzer aus und gleichzeitig noch viel dunkler, schwerer, im besten Sinne roher – drei Songs, die den Status einer eigenständigen Veröffentlichung völlig ausfüllen. Auch das 2020 entstandene Sea ist mit sechs Songs eher kurz, und das ist gut so. Hochkonzentriertes verdient auch vollste Konzentration beim Hören, wie sie über Albumlänge nur schwer zu halten ist. Und diese EP verdient die Aufmerksamkeit nicht nur, sie nimmt sie sich, sie packt einen, so ungefähr um den Magen herum, und zieht einen mit, halb hinhören ist hier eh nicht, also besser gleich gründlich zugehört.

Alles an diesem Release ist intensiv: Die Thematik, die Texte, ihre stimmliche Umsetzung zwischen Spoken Word, Hip-Hop und Gesang, und, dazu absolut stimmig und konsequent, die musikalische Konzentration aufs Wesentliche. Der erste Song „Sombre“ ist ein fast minimalistisches Arrangement aus Drumcomputer, Gitarrenloop, einem Bass irgendwo im Boden, White-Noise-Windböen und vor allem gesprochenem Wort. In dieser kargen Umgebung steht der wuchtigere Refrain wie eine Wand aus Angst. Auch in „Sense“ loopt eine wavige Gitarre zu einem zurückhaltenden Bass und sparsamen elektronischen Elementen, die Lyrics sind so gut wie gerappt, und es passt großartig. Bleak, greifbare Leere. Piano und eine schwebende Elektro-Atmo tragen dann zu „Somewhere else“ hinüber, aber dieses Intro bekommt nie eine Song-Erlösung. Stattdessen kommen verzerrte Gitarrentöne und Elektroflächen einfach noch hinzu und werden immer massiver, es verwebt sich zu etwas Undurchdringlichem, die angezerrten Vocals versinken fast in dem ganzen schweren Hall; Hall kann tonnenschwer sein wie Verzweiflung.
„Shore“ ist da fast schon ein musikalischer Befreiungsschlag. Der melodische Hintergrund, die einzelne, nervöse, monoton gehaltene Note darüber, der Sprechgesang und die tatsächlich eingängige Synth-Hook im Refrain, die Strings in der zweiten Strophe – das ist auf eine niederschmetternde Art extrem schön, übrigens auch sehr tanzbar. „Sad as shit“ und im Vergleich quasi noch der Feel-good-Ohrwurm der EP, es geht hier ja auch nur um Einsamkeit, Trauer und zerfressende Schuldgefühle.
Beim Intro zu „So“ reißt es mich jedes Mal ein wenig: Kirmespiano und Snare mit zehn Kilometern Hallfahne, Fans von 80er-Jahre-Sounds werden es lieben, ich gehöre leider nicht dazu. Dann kommen aktuellere Klänge dazu, es fügt sich zusammen. Und irgendwie fügt sich für mich auch gerade das Fremdeln mit der Instrumentierung zu den Lyrics, die in einem abgewandten, in sich gekehrten Gesang von völliger Entfremdung von sich selbst und der Welt erzählen.
Der Titelsong „Sea“ steht ganz am Ende, er ist musikalisch großartig und wunderschön. Stellenweise erinnert es ein wenig an Anne Clark: Extrem tolle Piano-Layer, sehr zurückhaltende Percussion, die eigentlich nur die Rezitation des Texts mit Akzenten versieht, und das ganze loopt ohne Anfang und Ende wie ein Gedankenkarussell ohne Ausstieg, nur einmal mündet es ganz kurz in einen gesungenen, refrainartigen Teil. Und dann natürlich der Text. Er schnürt mir bei jedem Hören die Kehle zu, er ist erschreckend, weil ich noch selten so treffend Suizidalität in Worte gefasst gehört habe und, wenn mir jemand im eigenen Leben, ohne Verarbeitung zu Kunst außenherum solche Sätze sagen würde, sämtliche Alarme auf rot wären.

Aber wie gesagt, die gesamte EP kann einen ziemlich mitnehmen. Die Themen, um die es hier geht, sind schwer, und das bleiben sie auch in der musikalischen Umsetzung, die so auf den Punkt ist, dass es fast einem Schlag in die Magengrube gleichkommt. Denn musikalisch ist Sea in meinen Ohren eine Weiterentwicklung gerade auch in der strikten Reduktion auf das Wesentliche und Nötige: Form follows function. Der Einsatz von Gitarrenloops trägt dabei einiges dazu bei, den Sound so kompakt zu halten und trotzdem variieren zu können. Aus einem Guss, aber ohne Wiederholung; das schwer zu Benennende, weil völlig Eigenständige, das die Musik von grabyourface ausmacht, wird von Release zu Release immer deutlicher hörbar.
Auch textlich hat das hier nichts mit irgendwelchen Genre-Konventionen zu tun. Es gibt kein hübsch melancholisches Versinken in Weltschmerz und romantisch überhöhter Tristesse. Das hier ist die Scheiße namens Depression, nüchtern in Worte und sehr gute Musik gefasst. Wer es nicht selbst kennt, bekommt vielleicht einen kleinen Eindruck. Wer es kennt, wird es wahrscheinlich wiedererkennen und wissen, nicht allein zu sein. Noch ein Gedanke zur Wasserstandsanzeige: Wenn man sich im ein oder anderen Song zu sehr wiedererkennt, zu sehr versucht ist, mitzusingen und darin aufzugehen, ist das vielleicht ein Punkt, um sich zu fragen, wie es einem eigentlich geht, so insgesamt. Und um das innere Rumpelstilzchen mal wieder zu fragen: Heißt du Isso? Heißt du Stimmt? Oder heißt du etwa Depression (und kannst dich mal)?

Anspieltipp: Je nach Stimmung und Klangvorlieben; in Clubs (irgendwann) wird man „Shore“ hören.

:mosch: :mosch: :mosch: :mosch: :mosch:

grabyourface: Sea
Negative Gain Productions, 18.12.2020
Download bei Bandcamp ab ca. 5 € (oder mehr)

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Tracklist:
01. Sombre
02. Sense
03. Somewhere else
04. Shore
05. So
06. Sea

(1783)