cryo-1Der Samstag beginnt für mich schon recht früh, bereits um halb zwei Uhr stehe ich vor der Amphibühne und schaue mir die Schweden von Cryo an. Vor einigen Jahren sah ich sie bereits in ihrem Heimatland und war durchaus angetan, und dieser gute Eindruck bestätigt sich selbst im grellen Mittagslicht. Martin Rudefeldt und Torny Gottberg lassen es richtig krachen mit ihrem durchdachten, oft untypischen EBM- und Electrosound, die ersten Reihen tanzen sich geschlossen warm, und der Auftritt ist viel zu schnell zu Ende. Well done!
no-sleep-1Schwedisch geht es auf der Parkbühne weiter mit den Newcomern von No Sleep by the Machine. Die Band siedelt ihre Musik irgendwo in der Schnittmenge aus Skinny Puppy und langsamen EBM-Sounds an und macht daraus etwas ganz Eigenes. Harsche, eindringliche Vocals, minimalistisches Soundgerüst, ein Sänger, der seine Seele in die Musik legt – auch das harte, aber lohnenswerte Kost!
mundtot-1Danach gibt es ein wenig Erholung in Form der Münchner Mundtot, die den Newcomerwettbewerb gewonnen haben und daher heute auf der Parkbühne spielen dürfen. Ein klein wenig exotisch ist ihr Sound auf diesem Festival, das Publikum ist bis auf die ausgewiesenen Fans zuerst etwas skeptisch, lässt sich dann aber schnell von Tino Wagner und seinen Mannen überzeugen. Guter Auftritt!
Rasch geht es dann zurück Richtung Amphibühne, She past away stehen auf dem Programm, und die will fast keiner verpassen. Das türkische Duo liefert auch she-past-away-1gewohnte Qualität ab, der Sound ist ausgezeichnet, sodass auch die vielen versteckten Details in den Liedern gut zu hören sind, die sonst oft etwas untergehen. Ganz kann ich mir She past away leider nicht anschauen, denn als Nächstes kommen meine Lieblinge von Beauty of Gemina auf die Parkbühne, und da gilt es, sich früh einen guten Platz zu sichern.
Nach dem für meine Begriffe etwas durchwachsenen Auftritt auf dem WGT passt hier jetzt wieder alles, die Songauswahl ist sehr gelungen und rockig, schon früh werden „Suicide Landscape“ und „Lonesome Death of a Goth DJ“ ausgepackt, und bog-1die Stimmung im Publikum ist dementsprechend euphorisch. Doch selbst beim country- und bluesangehauchten „Dark Rain“ tanzen alle mit, offensichtlich kennen viele Zuschauer die aktuelle stilistische Ausrichtung der Band. Feine Sache, dieser Auftritt!
Leider erweist sich „Dark Rain“ als recht prophetisch, denn genau zu den im Anschluss auf der Amphibühne spielenden Whispers in the Shadow öffnet der Himmel seine Schleusen. Zum Glück dauert der Regen nicht lang, ist aber so heftig, dass nur wenige Zuschauer bei den Österreichern ausharren. Sehr schade, aber auch ich verziehe mich trotz Regenjacke und Schirm, um einen kurzen Abstecher zur Kulturbühne zu Raison d’Etre zu machen, einem weiteren hochklassigen Projekt aus Schweden auf dem Festivalprogramm. Peter Andersson (nein, nicht der raison-1von Deutsch Nepal) zaubert feinsten Dark Ambient aus seinen Geräten, der allerdings auf Dauer ein klein wenig eintönig wird und vielleicht besser daheim im abgedunkelten Zimmer funktioniert.
Als Nächstes schaue ich mir Sixth June auf der Weidenbogenbühne an – beziehungsweise höre mir die Band an, denn es ist wieder gnadenlos voll auf dem kleinen Areal. Das Berliner Duo spielt höchst tanzbaren, leicht unterkühlten Synthie-Wave, etwas schmissiger als zum Beispiel Keluar oder Linea Aspera, aber nicht ganz so flott wie Ash Code … irgendwas dazwischen, es gefällt den Anwesenden jedenfalls sehr gut, alles schwingt das Tanzbein, und der Auftritt wird ein voller Erfolg.
kite-1Danach hetze ich zurück zur Kulturbühne, denn jetzt steht das zweite Highlight des Festivals für mich auf dem Programm, die Schweden von Kite. Seit 2008 gibt es das Duo um Sänger Nicklas Stenemo (Ex-Melody Club, Ex-The Mo, Songschreiber für Nicole Sabouné) und Christian Berg (Ex-Strip Music), das seither sechs EPs veröffentlicht und einen Ruf als eine von Schwedens besten Livebands erspielt hat. Der rein elektronische, aber auf gitarrenlastigen Rhythmen aufbauende Sound von Kite ist genauso ungewöhnlich wie Nicklas Stenemos Stimme, die Melodien von „Johnny Boy“, „True Colours“ oder dem unbeschreiblich guten, hypnotischen „The Rhythm“ werden einen nie wieder verlassen, das bis auf einige Laseranimationen im Dunkeln stattfindende Konzert wird man so schnell nicht vergessen. Ein Wahnsinnsauftritt, der viele Zuschauer vor die Bühne lockt und einhellige Begeisterung zurücklässt. Die Kollegen von Deutsch Nepal und No Sleep by the Machine haben es sich ebenfalls nicht nehmen lassen, den Auftritt der Landsleute zu verfolgen.

Die auf der Parkbühne danach spielenden In Strict Confidence kann ich daher zuerst gar nicht genießen, da ich geistig und emotional noch vollkommen bei Kite bin. Nach einer Weile kann ich mich dann aber auf das Vintage-Set einlassen, das richtig Laune macht und gefühlt sämtliche Besucher des NCN vor die eindeutig zu kleine Bühne lockt. Sehr viel mehr als das „Zauberschloss“ kenne ich zugegebenermaßen gar nicht von ISC, ich sollte mich mal mit den alten Sachen vertraut machen, denn das Set gefällt mir richtig gut.
Oomph! auf der Amphibühne umgehe ich im Anschluss daran großräumig, was allerdings auch längeres Warten bei mittlerweile empfindlich niedrigen Temperaturen auf die dritte Muss-Band des Festivals bedeutet. Henric de la Cour spielt leider erst um kurz nach Mitternacht auf der Kulturbühne, und auch hier gilt es sich wegen des zu erwartenden Ansturms früh einen guten Platz zu sichern. Henric de la Cour ist kein Unbekannter, seit zwanzig Jahren treibt er sich schon in der (schwedischen) Musikszene herum, erst mit den formidablen Yvonne, dann mit Strip Music und seit einigen Jahren als Solokünstler. Seine Musik ist eingängig, poppig, mit großen Melodien, doch mit düsteren Texten und einer dicht unter der Oberfläche lauernden Melancholie, die das Leben des Künstlers bestimmt und sich auch in dem auf den ersten Blick etwas deplatziert wirkenden Kunstblutbühnenoutfit äußert. Seine körperliche und musikalische Präsenz füllt die Kulturbühne vom ersten Moment an, und die Menge inklusive mir rastet zu „My Machine“, „Son of a Bitch“, „Shark“, „Grenade“ oder dem überwältigenden „Dracula“ vollkommen aus, Kälte und späte Uhrzeit sind vergessen. Hoffentlich kann man Henric de la Cour bald mal als Headliner in Deutschland sehen und nicht nur auf Festivals.

Der Sonntag wird dann leider recht kurz, das Wetter ist mehr als durchwachsen, ich kränkele etwas, das musikalische Programm für den Tag ist für mich nicht mehr ganz so wichtig, und die mehrstündige Rückfahrt nach München steht ja auch noch an. Daher wird nur noch kurz übers Gelände geschlendert, ausgiebig mit Bekannten gequatscht, WEAK auf der Amphibühne und EGOamp auf der Parkbühne kurz angesehen (und später Solar Fake und Project Pitchfork mit drei Drum-Sets verpasst), etwas gegessen, und dann heißt es auch schon: „Tschüss, NCN, toll war es, danke für einen genialen Festivalabschluss 2015!“

Fazit: Mein erstes Nocturnal Culture Night, aber sicher nicht mein letztes, auch wenn Deutzen selbst etwas umständlich zu erreichen ist und außer Camping keine direkten Übernachtungsmöglichkeiten bietet. Man muss sich also in den umliegenden Orten etwas suchen und dann mit S-Bahn oder Auto anreisen. Doch die wirklich einzigartige Location, die liebevolle Bandauswahl und die familiäre Atmosphäre machen das alles wieder wett. Bemerkenswert gut für ein Outdoor-Festival war der Sound auf allen Bühnen, für Essen und Trinken musste man nie lange anstehen, und auf dem angeschlossenen Mittelaltermarkt konnte man sogar Bier-Yoga machen. Also wenn da noch Wünsche offen blieben, weiß ich auch nicht …bier-yoga

 

(5916)