Schwedifizierung der Festivalwelt, Teil 1

IMG_7958Nach dem wunderschönen Call the ship to port vom Vorabend bin ich jetzt schon voll im Festivalmodus und starte den Amphi-Samstag mit dem ersten Act des Tages auf dem Schiff, den Italienern Ash Code. Das sympathische Trio habe ich vor einiger Zeit schon mal in München beim Katzenclub gesehen, wo es einen hervorragenden Eindruck auf mich gemacht hat. Dark Wave mit Postpunk-Anleihen und ordentlich Tempo, spannende Visuals und drei Musiker*innen, die sich an den Instrumenten und am Mikro abwechseln – eine hervorragende Mischung. Das Schiff ist schon überaus ordentlich gefüllt, was mich sehr für Alessandro, Adriano und Claudia freut. Drei Alben hat das Trio bereits veröffentlicht, das letzte, Perspektive, ist von 2018. Wir hören einen schönen Querschnitt, vor allem „Betrayed“ mit Claudia am Mikro oder das druckvolle „Want“. Das TheSound-Cover „I can’t escape myself“ fehlt diesmal, aber das fällt bei dem starken eigenen Material überhaupt nicht auf.
IMG_7975Weiter geht’s mit dem ersten von einigen Progress-Productions-Acts, der kultigen Plattenfirma aus Göteborg, die quasi alle derzeit namhaften Synth- und Electro-Acts aus Schweden veröffentlicht. Hearts of Black Science ist ein Duo aus Göteborg, das sehr ruhigen, eindringlichen Synthiepop mit hohem Shoegaze-Anteil spielt. Auf Konserve ist mir das definitiv zu ruhig, live – zumal mit dem hervorragenden Sound und dem tollen Licht auf dem Schiff – erschließen sich mir die sphärischen Weiten des Sounds und die zerbrechliche Schönheit besser. Daniel Änghede (auch Sänger bei Crippled Black Phoenix) und Tomas Almgren verbreiten eine wirklich schöne, fast schon meditative Stimmung und werden dafür auch mit jubelndem Applaus belohnt. Wer neugierig geworden ist, sollte mindestens das aktuelle Album Signal aus dem Jahr 2015 antesten.
IMG_8066Und schon ist es Zeit für eine der Bands, auf die ich mich bei diesem Amphi mit am meisten freue (und wenn ich mir das Gedränge in den ersten Reihen anschaue, bin ich da definitiv nicht allein): Agent Side Grinder. Im letzten November waren sie beim Münchner Katzenclub zu Gast, in der Zwischenzeit ist das hochgelobte neue Album A/X rausgekommen (hier unsere Rezension), das neue Bandgefüge als Trio mit neuem Sänger Emanuel Åström hat sich aufeinander eingegroovt, und die Spannung im Raum steigt spürbar. Die Synths stehen, die Stahlfeder hängt, es kann also losgehen. Und wie es losgeht, vom ersten Ton an sind alle mitgerissen, spätestens bei „Live in advance“ – mit Emanuels tiefer Stimme noch mal brachialer als sowieso schon – ist jeder verzaubert, „Mag 7“ ist ein monumentaler Abriss, „Stripdown“ vom neuen Album einer der fiesesten Ohrwürmer seit Langem, bei „Let the giants fall“ singt jeder mit, und beim ruppigen „Allisin Sane (No 2)“ spielen sich Johan, Peter (wie immer auch oft an der Bandmaschine) und Emanuel in einen wahren Rausch. „This is us“ verschafft uns eine etwas lieblichere Verschnaufpause, bevor ohrenbetäubender Jubel losbricht, als Henric de la Cour auf die Bühne kommt, um mit ASG den gemeinsamen Überhit „Wolf hour“ zu singen. Ich habe die beiden Bands schon diverse Male am selben Abend auf einem Konzert oder Festival gesehen, Henric kam da aber nie bei dem Song dazu. Das ist also ein wirklich großartiger Moment, und den Refrain singt gefühlt das ganze Schiff mit. „Into the wild“ schließt diesen überragenden Auftritt und lässt uns wirklich atemlos zurück. Das war etwas Besonderes!
IMG_8194Und dabei geht es ja jetzt noch weiter mit den tollen Schweden, denn Henric de la Cour steht mit seiner eigenen Band gleich auf der Bühne (weiß eigentlich jemand, wie der Keyboarder heißt? Ich habe es bisher nicht herausgefunden und möchte ihn nicht immer übergehen.). Auf dem WGT hat er sich schon erfreulich fit präsentiert, die Gesundheit scheint im Moment also stabil zu sein. Der Auftritt beginnt mit dem „Slow death intro“ und „Kowalski was here“, beide vom wunderbaren aktuellen Album Gimme daggers, die schon diese ganz spezielle herzzerreißend schöne Stimmung verbreiten. Etwas rockiger darf es mit „Two against one“ werden (hier habe sicher nicht nur ich den traurigen Clown aus dem Video vor Augen), bevor mit „Dracula“ DIE Hymne von Henric de la Cour ertönt. „Do you know the way home?“ singt er, aber wir sind doch schon daheim. Hier auf dem Schiff, inmitten euphorischer Fans, umgeben von großartigen Künstlern. „Chasing dark“ leitet auf das zerbrechlich-traurige „Grenade“ über, das Henric wie immer mit der wunderbaren Camilla Karlsson an der Gitarre und am Gesang zusammen performt. Wer jetzt noch keine Tränen in den Augen hat, hat sie spätestens bei „A Texas dream“, dem brandneuen Song, bei dem Henric sich die Seele aus dem Leib singt. Überhaupt gibt der Mann wirklich alles, kommt immer wieder an den Bühnenrand, faltet seinen langen Körper zwischen die Monitorboxen und singt den ersten Reihen direkt ins Herz. Nach dem leidenschaftlichen „Dogs“ gibt es sogar noch eine Zugabe, auch wenn sich Henric damit vielleicht ein bisschen übernimmt. „Body politic“ singt erst mal Camilla, während Henric noch angestrengt nach Atem ringt, am Ende aber einsteigen kann und sich auch entschuldigt, dass das jetzt ein bisschen in die Hose ging. Beim flotten „Lovers“ macht die Lunge aber wieder mit, und wir bekommen eine der alten Perlen seines Soloschaffens serviert. Intensiv, euphorisierend, hochklassige Musiker, zum Heulen schöne Melodien – tack så mycket! Das war wirklich toll.

Nachdem ich mir am Merchstand noch ein Autogramm von HdlC geholt habe, beschließe ich, schweren Herzens auf Pink Turns Blue zu verzichten (bei denen das Schiff jetzt wirklich richtig voll wird) und zum Tanzbrunnen hinüberzugehen, um die ganzen Emotionen und tollen Erlebnisse erst mal sacken zu lassen. Auch Haujobb würden jetzt gerade das Theater abreißen, aber ich brauche ein bisschen Ruhe, was zu essen und das Rekapitulieren mit Freunden. Im Hintergrund hört man Blutengel auf der Main Stage, die für meine (Nicht-Fan-Ohren) ungewöhnlich rockig klingen, haben die ihren Stil geändert? Sie locken damit aber natürlich trotzdem zuverlässig eine riesige Zuschauermenge unter die Pilze, die Kulisse, die Amphi-Auftritte auf der Hauptbühne so einzigartig machen. Meine Freunde und ich machen uns zu einer entspannten Shopping-Runde über die Händlermeile auf, bei der ich sogar das finde, was ich dringend brauche: neue Schuhe. Nitzer Ebb hören wir uns aus der Entfernung an und verstehen, warum uns andere Freunde nach dem WGT-Auftritt erzählten, dass das Ganze etwas seltsam war. Nitzer Ebb 2019 spielen natürlich immer noch die alten Hits, ohne die es nicht geht („Getting closer“, „Let your body learn“ usw.), allerdings darf man sich hier keine verschwitzte EBM-Stampf-Party erwarten. Das Ganze ist eher als Set angelegt, mit deutlich technoid-entspannterer Elektronik im Hintergrund, die Songs gehen ohne Pause ineinander über, und für viele ist sicher nur Douglas McCarthys Gesang eine vertraute Konstante. Ich finde das alles gar nicht so schlecht und bin gespannt auf den München-Auftritt im November. Aber man sollte definitiv wissen, was einen erwartet.

IMG_7916Danach bringe ich meine Einkäufe ins Hotel und nehme mir fest vor, sofort wieder zum Gelände zurückzugehen, weil ich die Aftershow-Party und vor allem das DJ-Set von Progress-Productions-Chef Torny Gottberg nicht verpassen will. Der Geist ist willig, das Fleisch dagegen schwach – im Hotel überwältigt mich die Müdigkeit, und ich kippe fast umgehend ins Bett. Schade, aber nicht zu ändern. Die Partys im Theater und auf dem Schiff (das nach L’Âme Immortelle auf die Dom-Seite gefahren ist, was viele als Taxi genutzt haben) haben dann sicher noch vielen ordentlich eingeheizt.

Hier geht’s zum Amphi-Sonntag!

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