Ein musikalisches Acht-Gänge-Menü

Manche Menschen mögen sich ja am Abend vor einem Festivalbesuch hinsetzen und die Running Order durchgehen, damit ja keine Lieblingsband verpasst wird. Dieses Problem stellt sich beim Sick Midsummer glücklicherweise nicht, da es nur eine Bühne gibt, sodass wir unsere Planung auf das konzentrieren können, was wirklich wichtig ist: das Essen. Wann es Kuchen, wann es Dal und wann es Chili gibt, will gut geplant sein, schließlich stehen uns gerade einmal zehneinhalb Stunden zur Verfügung, um uns einmal durch die Speisekarte zu fressen. Pro Gang haben wir zwanzig Minuten Zeit, so lange brauchen die Helferlein zum Bühnenumbau. Das setzt uns gewaltig unter Druck, aber auch in diesem Jahr haben wir es einmal mehr geschafft und weder eine Band, noch eine Speise ausgelassen!

29581295888_65a8fbd900_zPünktlich um 14 Uhr werden wir auf das Festivalgelände gelassen und beginnen mit einem Eis, das wir bei der Menüzusammenstellung nicht bedacht hatten und daher unseren sorgfältig ausgearbeiteten Ernährungsplan ein wenig durcheinanderbringt. Mit diesem besonderen Aperitif in der Hand beginnt dann die zeremonielle Begehung des Geländes, um bauliche Neuerungen am Hof und der Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei fällt sofort der erste Minuspunkt auf: Der Zugang zum Ziegengehege ist in diesem Jahr leider versperrt, sodass es leider kein Wiedersehen mit Baphomet gibt. Schade! Dafür tröstet uns eine graue Katze, die sich auch zu späterer Stunde noch anlocken und streicheln lässt. Gegen die Hitze gibt’s dann noch schnell eine Limo (mit den besten Grüßen an die Dame mit „dem harten Zeug“ – ja nicht zu früh zur Milch greifen!), ehe Bereavement aus Wels in der Nähe von Linz den Festivaltag eröffnen dürfen. Den Fünfer gibt es mit Unterbrechungen seit 1993, aus der Frühzeit ist jedoch nur noch Leadgitarrist Dan erhalten geblieben. In der aktuellen Besetzung können sich die Herren allerdings sehen lassen: Vor allem Sänger Mani macht auf der Bühne mächtig Eindruck, optisch wie stimmlich. Wie immer beim ersten Konzert des Tages fehlt es noch ein wenig an Publikum, und der gegen Ende des Konzerts einsetzenden Regen vertreibt einen großen Teil der Anwesenden nach hinten unters Dach, aber Bereavement lassen sich dadurch die Stimmung nicht verderben und hauen munter eine kompromisslos Soundattacke nach der anderen raus. Musikalisch erinnern die Oberösterreicher an amerikanische Death-Metal-Bands, vor allem Fans von Morbid Angel dürften beim Debütalbum Ingenious Encounters voll auf ihre Kosten kommen. Eine hervorragende erste halbe Stunde!

28565448807_ccc9bc25ec_zDie ideale Vorbereitung auf das nachfolgende Konzert ist einer der köstlichen Muffins mit Schokoglasur und glitzernden (!) Zuckerstreuseln oben drauf, denn jedes bisschen Energie wird gleich gebraucht. Glücklicherweise ist der Weg zum Büffet nicht weit, und nach einem kurzen Sprint durch den nachlassenden Regen sind wir pünktlich zu Asphagor wieder vor der Bühne. Die Schwarzmetaller aus Tirol haben ihr brandneues Album The Cleansing im Gepäck, allerdings kommt beim Publikum erst einmal mehr Soundbrei denn Musik an. Das bessert sich zwar im Laufe des Konzerts etwas, aber von der gewohnten Qualität ist man weit entfernt – ob da der Regen der Technik einen Strich durch die Rechnung gemacht hat? Die Basics kommen allerdings an, sodass wildem Kopfschütteln nichts im Wege steht. Zentrum der Aufmerksamkeit ist Sänger Morgoth, der uns vierzig Minuten lang die Lyrics förmlich vor die Füße kotzt, den Skelett-Mikroständer schwingt und insgesamt als barfüßiger Zeremonienmeister fungiert. Tempotechnisch sind Asphagor vor allem im mittleren Bereich unterwegs und auch Melodien nicht gänzlich abgeneigt; auch vor gesprochenen Passagen schreckt man nicht zurück. Das Ergebnis ist ein alles andere als langweiliger, aber auch nicht übermäßig komplexer Sound, der sofort in die Nackenmuskulatur geht (als Anspieltipp sei das grandiose „Aurora Nocturna“ vom aktuellen Album genannt). Dementsprechend kann ich zur restlichen Performance wenig sagen – ich war zu sehr damit beschäftigt, beim Moshen den Vordermann nicht umzuhauen. Immer wieder ein Genuss!

Brutaler Angriff aus dem Mittleren Osten

42736362464_6d171e4a37_zNach so viel Verausgabung ist es Zeit für den ersten Hauptgang dieses Tages, und so setzen wir uns mit einer Schüssel des hervorragenden veganen Dals in die inzwischen wieder vollständig trockene Wiese und genießen dabei noch ein wenig die Sonne, denn wenn Humanitas Error Est erst einmal loslegen, wird jede Wärme schlagartig verschwinden. Das Projekt um S Caedes, die auch bei Lebenssucht am Mikro steht, hat vor zwei Jahren mit Human pathomrophism sein Debüt vorgelegt, seitdem aber immer wieder mit Lineup-Wechseln zu tun gehabt, scheint jetzt aber eine stabile Form gefunden zu haben. Das Besondere: Hier stehen gleich zwei Frauen an der Front, denn neben S Caedes, die wie immer blutverschmiert mit irrem Blick in die Ferne starrt, kreischt sich Dimma die Seele aus dem Leib, was für eine richtig coole Atmosphäre sorgt. Trotz immer noch anhaltender Soundprobleme, die auch vor den Monitoren nicht Halt machen, entfesseln Humanitas Error Est einen wahren Gewittersturm auf der Bühne: Eine Dreiviertelstunde lang sägen sich fiese Riffs in unsere Ohren, unterlegt vom Dauerfeuer der Drum-Artillerie. Wir übersetzen den Bandnamen mit „Menschlichkeit ist ein Fehler“, und der Name ist Programm: Die düsteren Texte lassen keinen Abgrund aus, die Musik ist gnadenlos. Vergleiche mit Marduk und Dark Funeral sind absolut angebracht, und wer durch den eher mittelprächtigen Sound auf dem SMF nicht überzeugt werden konnte, sollte dringend auf YouTube oder Bandcamp ein zweiter Ohr riskieren!

SMF-Kuchen

Gibt es wirklich nichts Gutes an der Menschheit? Doch: Kuchen! Und kein Kuchen vermittelt so eindringlich die Botschaft „Es wird alles gut!“ wie ein Marmorkuchen mit Schokoglasur und Smarties, deswegen greifen wir nach Humanitas Error Est hier besonders gerne zu. Und die nächste Band 42736420434_34bc3db2ac_ztut ihr Übriges dazu, dass sich die Stimmung wieder etwas hebt, denn Nervecell aus Dubai hauen uns die nächsten 45 Minuten lang ihren brutal schnellen Old-School-Death-Metal um die Ohren, der sofort für gute Laune, breites Grinsen und wild eskalierende Metaller sorgt. Tatsächlich geht es im Zuschauerraum von der ersten Minute an Vollgas ab, und selbst ganz hinten ist man vor dem enthusiastisch ausgeführten Circle Pit nicht sicher (wie unter anderem die Kollegen von Sinister feststellen mussten, die dachten, sie seien am Eingang zum Backstagebereich sicher – weit gefehlt!). Nervecell wurden 1999 von Gitarrist Barney Ribeiro gegründet, haben bisher drei Alben rausgebracht (zuletzt Past, Present … Torture, 2017) und mit Rajeh Khazaal einen kompromisslosen Grunzer am Mikro. Auch bei den Drums drehte sich bei Nervecell in den letzten Jahren immer wieder das Besetzungskarussell, sodass Sessiondrummer Bashir Ramadan auch für das Sick Midsummer engagiert wurde. Zwar sind die Lyrics überwiegend auf Englisch, aber bei „Shunq“ (zu hören auf dem 2011er Album Psychogenocide) zeigen Nervecell, dass sich das Arabische hervorragend für Death Metal eignet. Spätestens jetzt ist Dubai bei jedem von uns auf der musikalischen Landkarte, und ich bin gespannt, welche Bands sich noch so aus der relativ jungen Metal-Szene im Mittleren Osten erheben – allerdings haben Nervecell die Messlatte ordentlich hoch gelegt!

Nach so einem musikalischen Vergnügen sollte man seinen ohnehin überreizten Sinnen eine kleine Pause gönnen, deswegen verlegen wir den Hauptgang zeitlich nach hinten und halten uns mit einer ordinären Leberkässemmel einstweilen bei Laune, bis LVTHN 42547931665_81c76911c2_zzur Messe bitten. Die fällt allerdings so basslastig aus, dass wir uns schnell ums Eck flüchten – vom vielen Kaffee haben wir schon genug Herzrhythmusstörungen. Von dort allerdings macht der räudige Black Metal, den die Belgier seit 2013 raushauen, richtig viel Spaß. „Primitiv“ ist das Wort, das sich einem aufdrängt, wenn man diese Musik beschreiben soll: viel Doublebass, dann wieder Tempo raus, angepunkte, dissonante Riffs, dazu ein höllisches Gekreische, das sich manchmal penetrant in den Vordergrund schiebt, manchmal fast schon die Arbeit der Rhythmusgitarre übernimmt – kurz: ein Sound, der keinesfalls das Genre neu erfindet, aber insgesamt sehr solide daherkommt. LVTHN kriegen diese Mischung aus Spannung aufbauen und rockigen Parts zum Kopfschütteln ausgezeichnet hin, und dass der Bass nicht zugunsten eines kälteren Sounds in den Hintergrund tritt, fällt grundsätzlich positiv auf. Dazu gibt es eine kleine Prise Schwarze Messe am dreieckigen Beistelltisch, komplett mit Kerzen, Amuletten, Blut und was auch immer das in der Tupperbox war. Eine einzige Frage bleibt nach diesem Konzert allerdings: Was ist mit dem Bandnamen los? Steht LVTHN für „Leviathan minus Vokale“? Wie spricht man es aus? L-V-T-H-N? Wir haben uns zielsicher für „Luthen“ entschieden (Loot ist immer gut!), wissen allerdings nicht wirklich, wie um alles in der Welt wir das LVTHN-Debütalbum Eradication of Nescience jemandem in einem Gespräch empfehlen sollen, ohne wie komplette Idioten zu klingen.

Hypnotisches zum Ausklang

42736521674_6e3118d32c_zSo langsam wird es Zeit für den Death-Metal-Headliner für dieses Jahr, und dementsprechend stimmen wir uns mit dem Highlight am Kuchenstand auf Sinister ein: dem grandiosen Blechkuchen, den es jedes Jahr gibt und für den wir uns besonders bei dem/der Bäcker/in bedanken wollen. Derartig vorbereitet, erwarten wir Sinister gemeinsam mit Nervecell, die vollständig im Publikum angetreten sind – und werden ein wenig enttäuscht, denn von der ersten Minute an klingen die Niederländer so, als würden sie gerade zum allerersten Mal miteinander spielen und wüssten auch nicht so recht, welches Lied gerade an der Reihe ist (ein Blick in das Gesicht von Drummer Toep Duin verrät alles). Und nein, an der Technik allein wird es nicht gelegen haben, die Probleme vom Nachmittag sind längst beseitigt. Was positiv an der ganzen Nummer auffällt ist zum einen der Gesang, denn Aad Kloosterwaad hat seine Growls ordentlich tiefergelegt, sodass sie streckenweise ordentlich grindig klingen, und wenn Sinister sich ab und zu in die mittleren Tempolagen begeben, klingt das auch alles so, wie man es von diesem Death-Metal-Urgestein gewohnt ist. Auch die irren Gitarren bringen die Brutalität auf den Punkt, sei es mit wütendem Geschrabbel oder aberwitzigem Getappe. Das alles wird jedoch in den Momenten zunichte gemacht, wenn Sinister aufs Gas drücken. Dann zerfallen den Oranjes die Lieder unter den Händen, und man fragt sich, was da gerade eigentlich passiert. Die Reaktionen im Publikum fallen dementsprechend aus: Von der grandiosen Stimmung, die bei Nervecell noch allenthalben vorherrschte, ist hier nichts zu spüren; nur vereinzelt werden ein paar Köpfe geschüttelt und Fäuste gereckt. Gehen mag allerdings auch niemand so recht – vielleicht wird es ja hinten raus besser? Nein, wurde es nicht, und so sieht man nach einer guten Stunde Chaoskonzert das ein oder andere eher enttäuschte Gesicht. Schade, denn nach einer gewissen Sinister-Müdigkeit in den letzten Jahren hat mir das aktuelle Album Syncretism wieder richtig gut gefallen.

SMF-Chili

Inzwischen ist es halb elf Uhr, der Black-Metal-Headliner steht an – allerhöchste Zeit für was G’scheids zum Essen! Und dafür gibt es auf dem Sick Midsummer eigentlich nur eine Wahl: Chili à la Bud Spencer, stilecht aus dem großen Topf, der an einem Dreibein überm Feuer hängt, serviert. Da 42736305804_61c0af67b6_zwerden Energiereserven geweckt, von denen wir nicht einmal ahnten, dass wir sie hatten! Derart gestärkt sind wir bestens vorbereitet auf Helrunar, die die kommende Stunde lang das Sinister-Kontrastprogramm abliefern: eigenwilligen Black-Metal, seit dem nach wie vor aktuellen Album Niederkunfft mit leichten Doom-Einschlägen, und bereits seit ihrer Gründung 2001 mit kopflastigen Texten. Die werden, gerade was das neuere Material betrifft, von Sänger Marcel „Skald Draugir“ Dreckmann mit einer beeindruckenden stimmlichen Bandbreite präsentiert und stehen musikalisch im Fokus: Alles andere rankt sich um die Vocals, hebt hervor, unterstreicht, konterkariert. Vor allem diese einzelnen Noten, die Helrunar gerne für ein paar Momente anklingen und stehen lassen, erzeugen dieses Gefühl von Verdammnis und Verzweiflung, das das Duo – neben Sänger Marcel ist noch Drummer Sebastian „Alsvartr“ Körkemeier festes Mitglied der Band; live holt man sich Unterstützung von Árni (Leadgitarre), Stefan (Gitarre) und RW (Bass) – seit Jahren gekonnt auf ihren Veröffentlichungen rüberbringt. Mit dem Tempo halten sich Helrunar an diesem Abend auch eher zurück, aber die Nackenbrecher im mittleren Geschwindigkeitsbereich entschädigen alle, die bei Sinister nicht auf ihre Kosten gekommen sind. Dazwischen immer wieder ruhigere Passagen, die schon auf Dordeduh einstimmen. Derzeit ist ein neues Album in der Mache, von dem wir eine erste Kostprobe geliefert bekommen haben, ansonsten arbeiteten sich Helrunar munter durch alle Schaffensperioden, und am Ende bleibt nur das Gefühl, dass man gerne noch mehr gehört hätte. Vielen Dank für diesen wunderbaren Auftritt!

Danach haben wir uns ein letztes Stück Kuchen redlich verdient, das wir schnell hinunterwürgen müssen, damit wir bei Dordeduh noch einen guten Platz kriegen. Die Rumänen dürfen dieses Jahr den Rausschmeißer geben, und wie auch schon 2017 mit Ahab könnte die Wahl kaum besser getroffen sein: Nach einem ganzen Tag voller „Auf die Fresse“ braucht man zum Ausklang einfach eine Band, nach der man nichts mehr hören will. 43404218032_1133fceff0_zGenau das liefern Dordeduh mit ihren tonnenschweren Soundlandschaften, die sich bleiern auf das inzwischen ziemlich ausgepowerte Publikum legen. In Raserei verfällt hier niemand so richtig, auch nicht bei den schnelleren Passagen, die Dordeduh durchaus zu bieten haben. Stattdessen sieht man überall geschlossene Augen, verträumte Blicke in den Nachthimmel und ab und an fliegende Haare, wenn die Musik es zulässt. Der Hypnose-Effekt ist bei Dordeduh nicht ganz so krass wie bei Ahab, aber die insgesamt eher langen und unaufgeregten Stücke taugen schon gut zum Runterkommen. Das Debütalbum, das inzwischen auch schon sieben Jahre auf dem Buckel hat, heißt Dar De Duh, was übersetzt in etwa „ein Geschenk der Geister“ bedeutet, und genauso fühlt sich die Musik auch an: suchend, findend, verloren in einer urtümlichen Landschaft, in primitiven Ritualen und Gebräuchen. Wir träumen uns durch die Stunde Konzert und verabschieden uns danach in die Nacht, ohne noch einmal am Essensstand nachzuschauen – nach diesem Tag der Völlerei hätte nicht mal mehr ein Minzblättchen reingepasst. Unser kleiner Seat tut sich schwer, den steilen Parkplatz zu verlassen, und kurz kommt der Verdacht auf, wir könnten zu viel gegessen haben. Was natürlich Blödsinn ist.

Auch 2018 hat uns das Sick Midsummer Festival einmal mehr begeistert: Die Bandauswahl ist gelungen, das kulinarische Angebot unterstreicht das musikalische, und die Kulisse ist ohnehin einmalig. Neben einigen kurzen Wasserausfällen am Klowagen, die jedoch schnell behoben werden konnten, und den Soundproblemen gibt es eigentlich nur eine Sache zu bemängeln: Das abgeschottete Ziegengehege hat uns wirklich schwer getroffen! Wie jedes Jahr an dieser Stelle möchten wir uns auch bei den Organisatoren und allen Helfern bedanken – ihr seid toll! Wir sehen uns 2019!

 

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Bilder: The Doc
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Anmerkung: Wir wir inzwischen dank der SMF-Orga erfahren haben, sind die Ziegen eigentlich Steinböcke und wurden dieses Jahr vor den Festivalbesuchern geschützt, da Baphomet drei hübsche Mädels bekommen hat, die den Umgang mit Mensch und Metaller noch nicht gewöhnt sind. Es besteht also noch Hoffnung!

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