Die von oben, die von unten, die, die fallen

Goreng geht für sechs Monate freiwillig ins Gefängnis, weil er im Anschluss dafür ein lang ersehntes Diplom erhalten wird. In der düsteren Zukunft erhalten Bürger für so etwas soziale Credit-Points. Er wacht auf in einer rechteckigen Zelle, die wie alle anderen auf zwei Personen ausgerichtet ist: ein Bett auf einer Wand, ein Bett auf der gegenüberliegenden Wand, Waschbecken und dazwischen eine Aussparung. Hier kommt einmal am Tag eine Plattform herunter. Das Essen wird von oben nach unten verteilt.

Theoretisch ist Nahrung für das ganze Gefängnis da. Theoretisch – denn das ganze Verlies ist vertikal ausgerichtet, auf jeder Ebene liegt eine Zelle, und es geht von Ebene Null an, auf der die Speisen auf’s sorgfältigste, akribischste und appetitlichste zubereitet und aufgebaut werden, hinunter bis Ebene 250, so munkelt man. Als Goreng also zu sich kommt, sieht er seinen Mitbewohner, den alten Trimagasi, der tatsächlich jemanden umgebracht hat und schon viele Monate hier verbracht hat. Trimagasi meint, auf Ebene 48 aufzuwachen sei eine prima Sache, nicht zu weit oben und vor allem auch nicht zu weit unten. Die Wahrscheinlichkeit Essen abzubekommen sei groß. Und tatsächlich, es kommt die Plattform mit Essen herunter, hält zwei Minuten an und fährt dann weiter nach unten. Goreng findet das ein wenig gewöhnungsbedürftig, auf Knien sich auf die schon recht unappetitlichen Speisereste zu stürzen. Er beobachtet das Ganze lieber erst einmal und nimmt sich einen Apfel für später. Doch leider funktioniert das so nicht: Jeder hat zwei Minuten Zeit zu essen, auf Vorrat hamstern ist nicht drin, denn das wird bemerkt. Zur Strafe wird es so unerträglich heiß oder unerträglich kalt, dass man gerne den Essensrest nach unten in den Schacht wirft, um ihn loszuwerden. Die beiden Zellenbewohner gehen sich zwar auch gewaltig auf den Geist, aber profitieren doch irgendwie voneinander: Trimagasi gibt sein Knast-Know-How preis, Goreng liest ihm aus einem Buch vor. Am Ende des Monats kommt Gas in die Zellen, die Würfel werden neu gemischt, die Zelleninsassen kommen auf eine andere Ebene. Was das für einen Unterschied macht, ob man oben, ziemlich nah an der Erzeugung der Speisen angesiedelt ist, ob man mittendrin gerade nochmal so etwas abbekommt, oder ob man auf Ebene 100 und darunter landet: Das kann sich jeder ausrechnen. Trimagasi war schon mal auf 132. Dort kommt kein Essen mehr an. Goreng fragt sich, wie die Leute dennoch überleben? Hat das irgendwas damit zu tun, dass Bewohner einer Zelle, obwohl sie doch immer gemeinsam den verschiedenen Ebenen zugeteilt werden, manchmal Neuzugang haben? Nach einem erneuten Monatswechsel kommt Goreng auf Ebene 171 zu sich. Er ist gefesselt. Er hört die Schreie derer, die auch soeben aufwachen und sehen, dass sie sehr weit unten angekommen sind. Einige lassen sich den Schacht runterfallen, einige erhängen sich. Das ist das Leben unten. Doch auch das schafft Goreng. Wir sehen ihn noch auf Ebene 33 erwachen, hier liegt er mit einer Frau, die die Leute davon überzeugen möchte, jeweils nur das Nötige zu essen und Portionen für die nächste Ebene zu bereiten. Wenn dies jeder von Anfang und von oben an machen würde, würde das Essen für alle Insassen reichen! Beim nächsten Mal wacht Goreng auf Ebene 202 auf. Nachdem er auch dies übersteht, kommt er danach auf Ebene 6. Eigentlich hat er nur noch einen Monat durchzustehen, doch mit seinem neuen Zellenpartner Baharat, der auch von der Solidarität der Gefängnisbewohner zutiefst enttäuscht ist, fasst er einen Plan und setzt ihn in die Tat um.

Der Schacht kommt ziemlich heftig daher. Er spricht die niedrigsten Instinkte an. Dadurch, dass bei dem Setting nichts von außen eindringt, alles nur innen spielt, in den Zellen mit dem eisigen Beton, wird das Gefühl der Beengung und Beklemmung noch verstärkt. Es ist fast so eine Art grausiges Kammerspiel, und hier werden Fans von Snowpiercer und The Cube auf ihre Kosten kommen. Für sie und auch für Fans von kleinen grauenhaften Kammerspielen wie Saw sind die herben Szenen, die es hier gibt, nichts Ungewöhnliches. Für mich ist manches nicht ganz schlüssig, und am Ende wird man etwas alleine gelassen und muss sehr viel sinnieren und interpretieren, es hätte auch ein wenig mehr Hoffnung geben können. Dennoch hat mich das Ganze nachhaltig gefesselt. Obwohl ich horrorerprobt bin, musste ich teilweise wegsehen. Die Bilder haben mich in den Schlaf verfolgt. Auch die Botschaft ist nachhaltig: Bist du ganz oben, willst du deinen Platz nicht abtreten. Bist du ganz unten, hast du in der Regel keinerlei Chance. In diesem Film gibt es keine Gewalt an Gefangenen, keine Folter. Es wäre im Prinzip ganz einfach: Wenn jeder zivilisiert so viel isst, bis er satt ist, gäbe es auch für weiter unten noch etwas.

Ein schwerer, deprimierender Stoff in den Zeiten von Covid-19, am Anfang von Ausgangsverbot Woche 2. Jeder hat genug im Kühlschrank und im Tiefkühlfach, man darf rausgehen, zum Spazieren und Einkaufen. Die Politiker versprechen, dass die Lebensmittelversorgung weiterhin gewährleistet ist. Dennoch hamstern die Menschen Nudeln, Desinfektionsmittel und Klopapier. Hauptsache man selbst ist versorgt.

Der Schacht
Originaltitel: El Hoyo
Produktionsland: Spanien
Seit 20. März 2020 auf Netflix abrufbar
Dauer: 94 Minuten, FSK ab 18
Genre: Dystopie, Horror
Regie: Galder Gaztelu-Urrutia
Cast: Iván Massagué, Antonia San Juan, Zorion Eguileor, Emilio Buale, Alexandra Masangkay

 

 

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